Organisationscoach Franca Burkhardt und Laufbahnberaterin Caroline Schultheiss (Bild unten) erklären in einem Beitrag für finews.life den Unterschied zwischen Belastbarkeit und Leidensfähigkeit. Sie zeigen ausserdem auf, warum ersteres deutlich erstrebenswerter ist.

Stephanie ist jeden Morgen um 7 Uhr im Büro und verlässt es erst lange nach 20 Uhr. Sie kann trotzdem jeden Tag nur einen Teil der vielen Aufgaben bewältigen, um Tags darauf wieder neue zu erhalten. Weil sie schlecht nein sagen kann, übernimmt sie ausserdem die Arbeit von anderen.

Pflichtgefühl und die Hoffnung, eines Tages etwas Wertschätzung zu bekommen, haben Stephanie alle Grenzen überschreiten lassen. Sie fühlt sich müde, erschöpft und ist immer öfters auch niedergeschlagen. Trotzdem erledigt sie weiterhin alle Aufgaben, versucht es allen – privat und beruflich – recht zu machen, und ist auch am nächsten Morgen wieder Punkt 7 Uhr im Büro.

Das Gehirn mit Tunnelblick

Überlastung, Erschöpfung und auch Orientierungslosigkeit: Die Leute sehen vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr. Sie gehen weit über ihre Belastungsgrenze hinaus und erkennen nicht mehr, was sie sich da eigentlich antun. Sie glauben, in einer ausweglosen Situation zu sein, in einer Situation, die einfach so ist und die man nicht ändern kann. Dabei ist das nur der Negativstress, welcher das Gehirn im «Tunnelblick» funktionieren lässt. Ein erster Schritt aus diesem Tunnel heraus wäre ein Gespräch mit einer aussenstehenden Person, die eine neutrale Perspektive auf die Situation hat.

Denn Stress ist nicht per se negativ. In einer gewissen Art und Menge ist er sogar wertvoll sein und kann die Leistungsfähigkeit steigern. Somit ist auch hier das Mass entscheidend: Nicht bei jedem Menschen lösen die gleichen Dinge den gleichen Stress-Level aus. Belastungsgrenzen sind sehr individuell und können auch trainiert und erweitert werden. Der bewusste Umgang mit der eigenen Belastbarkeit ist eine der relevantesten Selbstmanagement-Kompetenzen in einer agilen, digitalen Arbeitswelt.

caroline schultheiss

Resilienz durch Training

Allerdings bedeutet «Belastbarkeit» auch, dass man einen Schritt zurück macht und überlegt, ob seine Belastungsgrenze bereits überschritten wurde. Diese Reflexionsfähigkeit ist ebenfalls eine wichtige Kompetenz einer aktiven Laufbahngestaltung. Hat man seine Belastungsgrenze erreicht, ist es kein Zeichen von Stärke, einfach weiterzumachen.

Im Gegenteil, der bewusste Umgang mit Stress heisst auch, «Nein» sagen zu können, Pausen einzulegen und allenfalls Unterstützung zu holen.

Gleichzeitig sollte man auch versuchen, die eigene Belastungsgrenze zu erweitern. Für die Resilienzförderung oder die Erweiterung der Belastungsgrenze gibt es gute Trainings, welche von Laufbahnberatern und Coaches zur Verfügung gestellt werden. In kurzer Zeit können so gute Fortschritte erzielt werden. Leider gestehen sich viele Mitarbeitende den Trainingsbedarf zu spät ein, und es kommt zu schweren Folgen.

Keine Soldaten oder Kriegsgefangene

Verhaltensveränderungen, Leistungsabfall, körperliche Erschöpfung und Burnout sind nur einige Konsequenzen davon, wenn man die eigene Belastungsgrenze ständig überschreitet. Mitarbeitende wie Stephanie glauben zwar oft, sie seien belastbar, aber eigentlich sind sie vor allem eins: leidensfähig. Menschen können viel aushalten, aber Leid zu ertragen hat seinen Preis. Soldaten, Kriegsgefangene, Gewaltopfer – es gibt viele Geschichten, in denen Menschen überleben, weil sie leidensfähig sind. Das ist aber keine Perspektive für den Arbeitsplatz.

Auch wenn unsere Arbeitswelt anspruchsvoller geworden ist, gibt es keinen Grund, einfach auf die Zähne zu beissen und auszuhalten. Beschäftigen wir uns lieber mit unserer Belastbarkeit, denn Leidensfähigkeit ist definitiv das falsche Ziel.


Franca Burkhardt hat früher bei Julius Bär, der UBS und der Credit Suisse gearbeitet, bevor sie selbstständig gemacht und eine Beratungsfirma gegründet hat. Mit Bandy Analytics betreut sie nun Unternehmen in Sachen Organisationsentwicklung und Veränderungsmanagement. Unter anderem hat sie mit dem Schweizerischen Bankpersonalverband, KV Schweiz und Arbeitgeber Banken an der Skillaware-Kampagne beteiligt.

Caroline Schultheiss ist Laufbahn- und Karriereberaterin beim Kaufmännischen Verband Zürich. Davor war sie erst bei der Bank Sarasin als Lernendenbetreuerin tätig und nachher bei der Credit Suisse für Grundbildungsprogramme zuständig. Dann wechselte sie für rund zwei Jahre zur DZ Privatbank als HR-Beraterin und danach – vor KV Schweiz – zum Kanton Zürich in die Bildungsplanung.