Kein anderer Künstler vermag die Dimensionen der Finanzmärkte eindrücklicher zu gestalten als Michael Najjar in seiner Werkreihe «high altitude», die vermutlich die erste Interpretation überhaupt ist, die sich mit diesem Thema auseinandergesetzt hat.

Die zerklüfteten Fels- und Bergformationen auf den Werken des deutschen Künstlers Michael Najjar haben etwas Gespenstiges und gleichsam Fesselndes an sich. Es ist ihre optische Radikalität, die den Betrachter oder die Betrachterin in ihren Bann zieht und den Blick länger verweilen lässt, auf diesen Bildern, die Realität und Simulation ineinander vermengen.

Tatsächlich sind diese verschneiten Bergketten nicht wirklich echt – es gibt sie so nicht, und gleichwohl beruhen sie auf verschneiten Landschaften in Argentinien mit dem Gipfel des Aconcagua im Zentrum; dem höchsten Berg der Welt ausserhalb des Himalayas. Die auf einer dreiwöchigen Trekkingreise entstandenen rund 360 Fotografien bilden die Grundlage für Najjars epochale Werkreihe.

Erste Erfahrungen mit der «telematischen Gesellschaft»

(Atelier von Michael Najjar in Berlin)

Zwar ist «high altitude» bereits zwischen 2008 und 2010 entstanden, doch hat sie von ihrer faszinierenden Ausdruckskraft nichts eingebüsst, insbesondere nicht, wenn man weiss, unter welchen menschlichen Strapazen sie entstanden ist, und welche Überlegungen überhaupt zu ihrer Umsetzung geführt haben.

Najjar, ein heute 58-jähriger, in Berlin lebender Künstler, zählte Ende der 1980er-Jahre zu den ersten Verfechtern konzeptioneller Arbeiten, die sich an damals neuen Medienformaten zwischen Fotografie, Video und Computergestaltung orientieren; der gebürtige Landauer kam damals für eine Ausbildung an die Bildo-Akademie nach (West-)Berlin, wo er, beeinflusst vom Medienwissenschaftler Vilém Flusser oder dem Philosophen Paul Virilio, seine ersten Erfahrungen mit der «telematischen Gesellschaft» machte. «Es war die Symbiose der Realität mit dem Hybriden», erinnert er sich beim Treffen mit finews.art in seinem Berliner Atelier.

Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist, dass die Akademie neben dem Kunstverständnis damals ebenso Wert darauflegte, körperliche Ertüchtigung den Studentinnen und Studenten zu vermitteln. So belegte Najjar einen Kurs für die fernöstliche Kampfkunst Kung Fu, wo er Grenzerfahrungen sammelte, die ihm, und das ahnte er damals noch nicht, bei seiner Werkreihe «high altitude» zugutekommen würden. Mit grossflächigen Fotografien und Bildbearbeitungen machte sich Najjar über die Zeit einen Namen als Konzept-Künstler, wobei es ihm von Anfang an vor allem um die Wechselwirkung zwischen Natur und Technik ging, oder zwischen Wissenschaft und der Emotionalität des Lebendigen.

Unerhörte Quantensprünge

Zu internationaler Berühmtheit und Rang gelangte Najjar mit seiner überdimensionalen Fotoserie «netropolis», in der er sich ab 2003 (und bis heute) an dem Film «Metropolis» von Fritz Lang aus dem Jahr 1926 orientierte und dabei Schwarzweiss-Aufnahmen von Grossstädten aus verschiedenen Himmelsrichtungen übereinanderlegte und so sich eine neue Ausgestaltung und Wiedergabe dieser Metropolen ergab.

Michael Najjar, netropolis | new york | 2016

(Installationssansicht Michael Najjar, netropolis | new york | 2016)

Wie Najjar im Gespräch betont, ist es ihm bei seiner Kunst stets auch um körperliche Erfahrungen gegangenen, die er in die Umsetzung seiner Werke einbringen wollte. Mit dem Beginn des 21. Jahrhunderts, als die Technologie zu unerhörten Quantensprüngen ansetzte und gleichzeitig die Globalisierung eine sozusagen neue bis dahin nie gesehene Werthaltung erreichte, fühlte sich Najjar zusehends von den globalen Finanzmärkten angezogen; denn sie verbanden auf geradezu apodiktische Weise die Symbiose von Technologie und Globalisierung. «Gleichzeitig entsteht so eine Parallelwelt, in dem sich unser materielles System im Virtuellen auflöst – sich dematerialisiert.»

Mit diesem Ansatz begann sich Najjar mit den Finanzmärkten zu befassen. Er eröffnete ein Konto bei einer Online-Bank und sammelte Erfahrungen im Handel mit Wertschriften, wobei ihm an meisten die emotionale Komponente faszinierte, das Gefühl im Umgang mit dem Risiko, das zum totalen Gewinn oder totalen Verlust führen kann. Diese Konnotation evozierte ihn auch die Parallelität des Absturzes – an den Finanzmärkten wie in der Hochgebirgswelt, «wo Geld respektive Sauerstoff zum Überleben unerlässlich sind.»

Aufstieg zur Spitze im zweiten Anlauf

Michael Najjar, dow jones 80-09, 2009

(Michael Najjar, dow jones 80-09, 2009)

Nach monatelangen Vorbereitungen zog Najjar im Januar 2009 mit einem Freund sowie Bergführern und Trägern los, um den fast 7'000 Meter über Meer gelegenen Gipfel in Argentinien zu bezwingen. Die Expedition erforderte eine langsame Angewöhnung an die immer dünner werdende Luft beim Aufstieg. In zwei Lagern machte die Gruppe halt; zu dem Zeitpunkt hatte Najjar bereits Dutzende von Bildern der immer karger, aber nicht weniger eindrücklich werdenden Landschaft gemacht, wobei es mit zunehmender Höhe immer schwieriger wurde, Bilder zu machen, da die Temperatur von mehr als minus 30 Grad die Betätigung der Kamera zusehends erschwerte.

«Wir wussten, dass die grösste Herausforderung die letzten 1'000 Höhenmeter waren», erinnert sich Najjar, auf denen sein Expeditionskollege unter den Strapazen nicht mehr weiterkam, so dass auf Anraten des Bergführers der Aufstieg abgeblasen wurde. In dem auf 6'000 Metern gelegenen Camp wollte sich Najjar allerdings nicht eingestehen, dass sein Projekt gescheitert sein sollte. Kurzum, er war nicht bereit, seinen Glauben an den Erfolg der über Monate geplanten Trekkingtour aufzugeben. So gelang es ihm, einen zweiten Bergführer davon zu überzeugen, am nächsten Tag zu zweit nochmals einen Aufstieg bis zur Spitze zu wagen.

Das war am 29. Januar 2009. «Mit jedem Schritt näher zum Gipfel wuchs, analog zum Wahn sozusagen, den manche Spekulanten an der Börse heimsucht, das Gefühl von FOMO», sagt Najjar, der «Fear of missing out», also der Angst, etwas zu verpassen; «es war eine innere Euphorie, welche die beinahe unerträglichen körperlichen Strapazen überwog, wobei mir nun meine Körperbeherrschung, die ich mit meinem früheren Kung-Fu-Training gewonnen hatte, zugute kam», erinnert sich Najjar an den letzten Kilometer bis zur Krönung der Expedition um 14:25 Uhr, als er tatsächlich auf dem Gipfel des Aconcagua stand.

Bereit, in die Tiefe zu springen

Wie sich später herausstellen sollte, waren die beiden Männer zu dem Zeitpunkt die zwei am höchsten stehenden Menschen auf der Welt, da damals zu der Jahreszeit aus meteorologischen Gründen niemand die 8'000er im Himalaya Gebirge besteigen konnte.

Michael Najjar, dax 80-09, 2009

(Michael Najjar, dax 80-09, 2009)

Obschon Najjar mit seinem Bergführer bloss etwa eine halbe Stunde oben verweilte, offenbarte sich ihm in dieser Zeit ein ganzes Leben, ein Leben, dem eine bis dahin unvorstellbare Erfüllung innewohnte – «für einen Augenblick war ich bereit, einfach in die Tiefe zu springen, weil sozusagen alles erreicht war und die erlittenen Strapazen den grösstmöglichen Sinn ergeben hatten», erinnert sich Najjar.

Doch dann geschah etwas anderes, das ihn vom Sprung oder Fall in die Tiefe abhielt: Ein Langstreckenflugzeug der Swiss flog direkt über den Köpfen der beiden Bergsteiger hinweg. «Die Maschine schien zum Greifen nahe. Und da wurde mir klar», erklärt Najjar im Rückblick, «dass mein nächstes Projekt noch eine Stufe weiter gehen musste, also im All sein musste – «outer space».» Obschon sich der Abstieg als extrem gefährlich herausstellte, weil Körper und Seele nach dem Erreichen des Ziels zu versagen beginnen, schafften es die beiden Männer zurück ins Lager auf 6'000 Meter und schliesslich ganz zurück in die Zivilisation.

In den Folgemonaten entwickelte Najjar das fotografische Material, das er gesammelt hatte und kombinierte dabei in filigraner Kleinstarbeit am Computer die visuellen Strukturen der argentinischen Bergwelt mit den Charts verschiedener Aktienindizes (Dow Jones, Dax, Nikkei, RTS, Hang Seng, etc.) der vergangenen 20 bis 30 Jahre.

Aktienkurs von Lehman Brothers

In ihrer Einbettung und Reproduktion in die bearbeiteten Bergbilder erhalten die Aktienkursverläufe einen neuen Stellenwert, und machen so die Abstraktheit des globalen Finanzsystems zumindest virtuell fassbar. Während die Wirtschaft früher auf dem Austausch von Gütern und Waren beruhte, richtet sich spätestens seit dem Anbruch des 21. Jahrhunderts der Fokus auf riesige Datenmengen, die dank der Technologie überhaupt speicherbar werden. Bemerkenswert ist dabei, wie Najjar im Gespräch mehrmals betont, dass sich das Finanzsystem über Jahrzehnte linear entwickelte, und erst in den vergangenen 25 Jahren aufgrund des Technologiesprungs und der damit verbundenen Globalisierung eine Volatilität erlangte, welche heute die ganze Dramatik an den Märkten ausmacht.

Michael Najjar, lehman 92-09, 2009

(Michael Najjar, lehman 92-09, 2009)

Aus der Werkreihe ragt ein Bild heraus (siehe oben). Es exemplifiziert keinen Index, sondern den Kursverlauf der Aktie der am 15. September 2008 kollabierten US-Investmentbank Lehman Brothers. Dabei handelt es sich um jenes Geldinstitut, das wie kein anderes, den Absturz und die Finanzkrise von 2008 im übertragenen, visuellen Sinn symbolisiert.

Der Untergang dieser 158-jährigen Institution gedeiht zur Erkenntnis, dass die Technologie in unserer Gesellschaft in den vergangenen drei Jahren einen tektonischen Wandel unseres Werteverständnisses herbeigeführt hat, und sich dabei die Menschheit mit einem komplexen Prozess konfrontiert sieht, bei dem die Grenzen, die uns erfahrungsgemäss als sicher und stabil erscheinen, schon im nächsten Moment in Frage gestellt werden und ihre Gültigkeit verlieren, genauso wie ein Trader seinen ganzen Einsatz verspielen kann.

Mahnmal der Unversehrtheit

Mit seiner Werkreihe «high altitude» ist Najjar vermutlich der erste Künstler, der eine Finanzkrise konzeptionell dargestellt und verarbeitet hat. Entstanden sind zehn Bilder in zwei Formaten in einer 6er Auflage sowie eine ledergebundene Kassette in einer Auflage von 30 mit kleineren Reproduktionen; viele dieser Werke sind mittlerweile vergriffen, einzelne Exemplare aber noch auf Anfrage erhältlich. Einige von Najjars Werken aus der «high altitude»-Reihe wurden in namhaften Museen ausgestellt und befinden sich in renommierten Firmensammlungen von Banco Santander, Bankia oder Boston Consulting.

Mittlerweile gilt Najjar zu den führenden Vertretern einer Kunst zwischen Technologie, Wissenschaft und Natur, wobei er als Künstler dabei den problematischen Umgang der Menschheit mit unserer Welt in den Fokus stellt respektive thematisiert – etwa, indem er unseren so häufig sorglosen Umgang mit den natürlichen Ressourcen aufzeigt und gleichzeitig als Mahnmal die Unversehrtheit ebendieser Welt für unsere Nachfahren dokumentiert. So entstehen neue Werkreihen, wobei im Zentrum, die 2021 initiierte Serie «cool earth» steht, die sich mit unserer planetarischen Zukunft in Zeiten des Klimawandels auseinandersetzt.

Orbitaler Weltraumflug geplant

Porträt Michael Najjar, Foto: Thomas Rusch

(Porträt Michael Najjar, Foto: Thomas Rusch)

Nach seinen vielen Reisen in die entlegensten Orte dieser Welt, steht Najjars grösste Expedition noch bevor: voraussichtlich im Jahr 2026 wird er an Bord eines Raumgleiters der Firma Virgin Galactic einen orbitalen Weltraumflug (oberhalb von 100 Kilometer Höhe) unternehmen. Es handelt sich dabei um das private Weltraumprojekt des britischen Entrepreneurs Richard Branson.

Für diesen Flug hat er sich bereits 2012 angemeldet und sich von drei Kunstsammlern auch das erforderliche Budget zuschreiben lassen. Hierfür hat er sich in Deutschland am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt Köln (DLR), in den USA am National Aerospace Training and Research (NASTAR) Center und in Russland am Star City Training Center für diese einzigartige Erfahrung in der zeitweiligen Schwerelosigkeit vorbereitet.

Wo, wenn nicht im Weltall, könnten die Schönheit und gleichzeitig auch die Gefahr der Zerstörung unseres Planeten besser zum Ausdruck kommen? Dank seiner langen Auseinandersetzung mit diesem Thema, aber ebenso aufgrund seiner bisherigen Grenzerfahrungen, ist Michael Najjar nicht nur prädestiniert für diese Reise, sondern er wird recht eigentlich auch der erste Mensch sein, der im All in eine Dimension vorstösst, die ein noch nie dagewesenes Kunstschaffen erschliessen wird.

www.michaelnajjar.com


Nächste Ausstellungen von Michael Najjar

Ausstellungsansicht Michael Najjar, netropolis | são paulo, 2003-2006, Venedig Biennale – 10th International Architecture Exhibition

(Ausstellungsansicht Michael Najjar, the invisible city, 2003-2006,
Biennale Venedig – 10th International Architecture Exhibition)