Wellingtons Investment-Kompass für eine unübersichtliche Welt
Bereits früher in diesem Jahr konnten Leserinnen und Leser von finews.ch die beiden Schweizer Vertreter von Wellington Management, Jenö Szabo und Luca Michienzi, im Interview kennenlernen. Nun führt uns die redaktionelle Reise direkt in die «Küche» des Unternehmens. Nach London, nämlich: Dorthin, wo die aktiven Anlagestrategien von Wellington Management ausgedacht und in die Tat umgesetzt werden.
Das Timing hätte nicht besser sein können, um eine Kernbotschaft des Tages zu vermitteln, das stärker politisch beeinflusste Investment-Umfeld: Am selben Morgen kündigte der französische Premierminister Sébastien Lecornu seinen Rücktritt an (inzwischen ist er wieder im Amt).
Intellektuelle Vielfalt als Prinzip
Der Schauplatz: zwei moderne Etagen aus Glas und Stahl an der Victoria Street, gleich hinter der Westminster Cathedral. Innen herrscht eine kollegiale, analytische Atmosphäre. Bei Wellington gibt es keine einheitliche «House View».
Die Beteiligung zahlreicher Mitarbeiter am Unternehmenskapital fördert den offenen Diskurs und auch Widerspruch zwischen den Teams. Diese Struktur ist bewusst so gestaltet und integraler Bestandteil der Art und Weise, wie hier der Blick auf die Finanzmärkte entsteht und geschärft wird.
Die Menschen hinter den Portfolios
In fünf thematischen Panels beleuchteten Strategen und Portfoliomanager die Bruchlinien einer sich wandelnden Welt. Von Natasha Brook Walters und Will Lockhart, die sich über wandelnde Paradigmen der Portfoliogestaltung unterhielten, über den Makrostrategen John Butler zum Thema der fiskalischen Dominanz bis zu den Ausführungen von Martin Harvey (Fixed Income) und Andy Heiskell (Global Equity) – um nur einige zu nennen – reichte der thematische Bogen über sämtliche Schichten der globalen Kapitalmärkte. Die intellektuelle Vielfalt war auffallend: ein Mosaik von Perspektiven, die teilweise miteinander konkurrierten und sich zugleich ergänzten.
Den Auftakt machte Natasha Brook Walters, Head of Solutions bei Wellington. Sie beschrieb das heutige Anlageumfeld als eine «Evolution, noch keine Revolution» – aber eine, die Investoren zwingt, sicher geglaubte Annahmen der letzten Jahrzehnte hinter sich zu lassen. Die Ära billigen Geldes und niedriger Inflation sei «vorbei», ersetzt durch höhere makroökonomische Volatilität, global entkoppelte Zyklen der Geldpolitik und deutlich aktivere Regierungen.

In der «Küche»: das Londoner Büro von Wellington Management. (Bild: zVg)
Anpassungsfähigkeit als wichtigste Anlagekompetenz
Ihr Rezept: Diversifikation neu denken, neue Einkommensquellen suchen und den «Public-Private-Shift» annehmen: Unternehmen haben es heute viel weniger pressant als früher, an die Börse zu gehen. «Anpassungsfähigkeit», sagte sie, «ist zur wichtigsten Überlebenskompetenz im Investment geworden.» Der Satz gab den Ton vor für einen Tag, der weniger Prognosen liefern, sondern vielmehr zeigen sollte, wie Portfolios in einer aufgewühlten Welt neu konzipiert werden.
Die makroökonomische Analyse von John Butler dämpfte den Optimismus, der den Aktienmarkt derzeit fest im Griff hat. Seine Diagnose war unmissverständlich: «Die Welt hat sich verändert.» Die Inflation sei «hartnäckig» bei rund 3 Prozent, während Regierungen und Zentralbanken «keine Schmerztoleranz» mehr zeigten. Die Expansion der Staatsausgaben habe die monetäre Disziplin abgelöst.
Die Märkte sind politisch geworden
«Jede Wahl der letzten Zeit hat zu mehr, nicht weniger fiskalischer Lockerung geführt», argumentierte Butler. «Fiskaldominanz» und «politische Dominanz» bestimmten nun den Takt an Märkten, die früher eher den Zentralbanken mit ihrer Forward Guidance gehorchten.
Die Folge, so Butler, sei eine Welt, in der sich das alte Inflationsziel von 2 Prozent auflöse. «Wenn man erst einmal signalisiert, dass 3 Prozent akzeptabel sind – warum dann nicht 4, warum nicht 5? Genau auf dieser Reise befinden wir uns.» An den Börsen herrsche «Goldlöckchen-Stimmung», in der Hoffnung, dass KI-getriebene Produktivität schmerzfreies Wachstum bringe. Sein eigenes Fazit fiel nüchterner aus: Die nächste Phase könnte ein «inflationärer Boom» sein, auf den die Anleihenmärkte zu wenig vorbereitet sind.
Das KI-Dilemma
Butlers Skepsis fand ihr Gegengewicht in der Session «Investieren in KI – die öffentliche und private Perspektive», an der die US-Portfoliomanager Matt Witheiler und Brian Barbetta virtuell teilnahmen. Beide beschrieben einen konstruktiven, forschungsbasierten Umgang mit der Technologie. Es seien heute allerdings vielfach nicht kotierte Unternehmen, die den Wandel vorantrieben und damit auch die Bewertungen kotierter Firmen beeinflussen, sagte Barbetta. Er skizzierte, wie Wellington versucht, aus einem global verzweigten Netzwerk in Bereichen wie Halbleiter, Rechenzentren und Software-Infrastruktur Erkenntnisse zu gewinnen.
Witheiler ergänzte, dass künstliche Intelligenz bereits in die internen Research-Prozesse integriert sei – mit dem proprietären Tool «Welly», das den Analysten von Wellington hilft, globale Informationsflüsse zu synthetisieren.

In den Aktien ist ein sehr positives KI-Szenario eingepreist: John Butler, Makrostratege. (Bild: zVg)
Selbstbewusste Erkundung des Feldes
Insgesamt wird KI bei Wellington weniger als mögliche Blase, sondern als operative Realität verstanden, als Werkzeug also, das die Märkte und die Arbeit der Investoren verändert. Butlers Warnung, KI müsse «sehr schnell liefern», um die aktuellen Bewertungen zu rechtfertigen, hallte trotzdem nach.
Als Tom Levering gemeinsam mit Analystin Megan Galligan auf die Bühne trat, verschob sich der Fokus von Algorithmen auf Elektrizität. Ihre Frage – «Haben wir ein Stromproblem?» – wurde rasch zu einer säkularen Wachstumsstory.
Die Stromnetz-Saga
Levering, Leiter der Infrastruktur- und Energieplattform von Wellington, scherzte, er habe vor 15 Jahren «sein ganzes Geld» in diese Strategie gesteckt, lange bevor weitreichende Elektrifizierung und Rechenzentrumsnachfrage zu Trendthemen wurden. Das sei die Verkörperung von Wellingtons Modell der Mitarbeiterbeteiligung: Überzeugung, gestützt durch eigenes Kapital.
Levering und Galligan beschrieben eine Welt regulierter, berechenbarer Geschäftsmodelle für Stromproduzenten und Netzbetreiber, die heute einer explosionsartigen neuen Nachfrage gegenüberstehen, getrieben von KI, digitaler Infrastruktur und Elektromobilität. «Wir müssen keine heroischen Annahmen treffen», sagte Galligan. «Das Wachstum ist sichtbar und breit abgestützt. Nicht nur bei den Erneuerbaren, sondern in einem pragmatischen Mix.»
Bewertung, Qualität und die Marktbreite
Die abschliessende Plenarsitzung «Hinter den Schlagzeilen: ‹Value› finden in den globalen Aktienmärkten» führte die Diskussion zurück zum Ausgangspunkt des Tages. Andy Heiskell stellte fest, dass Märkte in hohem Masse «datenabhängig» geworden seien, reaktiv statt vorausschauend.
Seine Beobachtung: Die Weltwirtschaft befinde sich seit 2022 eigentlich in einer «seitwärtsgerichteten Lethargie», die aufgrund von wenigen, sehr ergebnisstarken Unternehmen nicht so deutlich spürbar sei. Nun zeigten sich aber auch erste Anzeichen einer Verbreiterung des Positiven: «Fundamentales Wachstum ist nötig, um Aktienmärkte zu verbreitern – und wir beginnen, genau das zu sehen.»

Makrostratege Nicolas Wylenzek sieht die Stimmung in Europa drehen. (Bild: zVg)
Ein deutsches «Wunder» in Sicht?
Tim Manning argumentierte, dass US-Bewertungen «nicht wirklich übertrieben» seien, wenn man Qualität und Cashflow berücksichtige. Nick Wylenzek wiederum diagnostizierte eine vorsichtige Rückkehr des Vertrauens in Europa, insbesondere in Deutschland. «Nach Jahren der Stagnation und politischen Orientierungslosigkeit beginnt Deutschlands Mischung aus fiskalischem Pragmatismus, Industriepolitik und Binnenkonsum, kohärenter zu wirken», sagte er.
«Es bleibt fragil, aber die Stimmung dreht.» Für Wylenzek könnte die grösste Volkswirtschaft Europas wieder zum Dreh- und Angelpunkt eines selbsttragenderen europäischen Zyklus werden: «Das Europa der nächsten zehn Jahre wird sehr anders aussehen als das der vergangenen Dekade.»
Rahmen für den Diskurs
Man muss nicht jeder Schlussfolgerung des Tages zustimmen. Doch die Diskussionen gaben einen seltenen Einblick in die Tiefe, mit der Wellington Märkte analysiert, um seine institutionellen Kunden zu beraten. In einer Branche, die oft auf Slogans und Benchmarks reduziert wird, erinnerte der London Media Day daran, dass intellektuelle Tiefe ein Wettbewerbsvorteil sein kann.
Als die Gespräche schliesslich auf der Dachterrasse ausklangen, war klar: Wellingtons wertvollstes Kapital ist nicht zuerst das verwaltete Vermögen von über 1 Billion Dollar, sondern die dezentrale Architektur des Unternehmens selbst. Keine «House View», keine Doktrin, sondern ein Spielfeld aus Debatte, Neugier und Verantwortungsbewusstsein.














