Unaufgeregt beurteilt Dieter Ruloff die Entwicklung der EU und stellt in einem exklusiven Essay für finews.first fest: In gewisser Weise ist die Staatengemeinschaft auch das Opfer ihres Erfolgs.


Dieser Beitrag von Dieter Ruloff erscheint in der Rubrik finews.first. Darin nehmen renommierte Autorinnen und Autoren wöchentlich Stellung zu Wirtschafts- und Finanzthemen. Dabei äussern sie ihre eigene Meinung. Die Texte erscheinen auf Deutsch und Englisch. finews.first erscheint in Zusammenarbeit mit der Genfer Bank Pictet & Cie. Die Auswahl und Verantwortung der Beiträge liegt jedoch ausschliesslich bei den Herausgebern von finews.ch Bisherige Texte von: Rudi Bogni, Adriano B. Lucatelli, Peter Kurer, Oliver Berger und Rolf Banz.


Für die Europäische Union war 2015 kein gutes Jahr. Die erste Hälfte stand im Zeichen des Konflikts der Euro-Gruppe mit seinem Mitglied Griechenland über die Modalitäten eines Verbleibs im Währungssystem; die zweite Hälfte brachte dann mit der Flüchtlingskrise eine Belastung des Schengen-Verbundes und der Dublin-Regeln des EU-Asylregimes, und zwar bis hin zu deren partieller Ausserkraftsetzung.

Weitere, schwere Herausforderungen warten auf die EU, die wichtigste ist zweifelsohne die umfassende Reform der Union, mit der ein Verbleib des Vereinigten Königreichs (UK) in dieser aufs engste verbunden ist.

Wer über die Zukunft der EU nachdenken will, muss sie zunächst einmal kennen. Tatsächlich ist die EU eine komplizierte Struktur, ein Gebilde sui generis, wie die Politikwissenschaft gerne betont. Ihrer supranationalen Elemente wegen – wesentlich liegen diese im Bereich des Binnenmarktes und der Wirtschaft – ist die EU mehr als ein blosser Staatenbund; aber ein Bundesstaat wie etwa die Schweiz oder die USA ist sie nicht einmal im Ansatz.

«In gewisser Weise ist die EU auch das Opfer ihres Erfolgs»

Unter dem Strich war die EU bislang sehr erfolgreich. Doch in gewisser Weise ist die EU auch das Opfer ihres Erfolgs: Gegründet wurden die Vorgänger der jetzigen EU, die Gemeinschaft für Kohle und Stahl EGKS, die Wirtschaftsgemeinschaft EWG und Atomunion EAG von 1952 respektive 1956 durch sechs Staaten, den drei grossen (Frankreich, Deutschland und Italien) sowie drei kleinen (den Benelux-Staaten).

Inzwischen ist die EU auf 28 Staaten angewachsen und in jeder Hinsicht heterogen, vielstimmig und mit divergierenden Interessen. Deshalb können respektive wollen nicht alle EU-Staaten in allen Projekten der Union mitmachen. Um überhaupt weiterzukommen, sind Kompromisse und Einigungen auf den kleinsten gemeinsamen Nenner beim Ausbau der Union immer schon die Regel gewesen.

«Die Schönwetter-Union geriet im Krisenfall immer wieder in Nöte»

Fortschritte hat die EU immer nur in politisch und wirtschaftlich ruhigen Zeiten gemacht. Die resultierende Schönwetter-Union geriet im Krisenfall deshalb immer wieder in Nöte und musste rasch nach- und ausbessern.

Man kann dies sehr gut an zwei Staaten und zwei EU-Projekten demonstrieren: dem Vereinigten Königreich (UK) und Griechenland; sowie der Währungsunion und dem Schengen-Verbund.

Grossbritannien wurde nach einigem hin und her 1973 Mitglied der damaligen EWG, und zwar reiner Opportunität folgend, wie die damaligen Regierung Heath der Wählerschaft gegenüber ganz klar betonte; Mitmachen im ‹common market› sei eine Sache von ‹trade and jobs›.

«Populisten haben immer schon Wählerstimmen mit der Idee eines EU-Austritts zu mobilisieren versucht»

Überzeugte Europäer waren die Briten in ihrer Mehrheit nie. Beim Euro und bei Schengen blieben sie aussen vor: Die Kontrolle über das eigene Geld wollte man keinesfalls abgeben, ebenso wenig die Kontrolle an den eigenen Grenzen. Volles EU-Mitglied ist UK dennoch.

Populisten auf der Insel haben immer schon Wählerstimmen mit der Idee eines EU-Austritts zu mobilisieren versucht; bereits zwei Jahre nach dem Beitritt zur Gemeinschaft wurde in London ein Ausscheiden aus dieser diskutiert, in einem Referendum aber mit einer Mehrheit von 67 Prozent abgelehnt.

«Griechenland in die Währungsunion zu lassen, war ein schwerer Fehler»

Das neuerliche Referendum 2017 wird wohl knapper ausfallen, selbst wenn die EU dem aktuellen britischen Premier David Cameron noch weiter entgegenkommt als seiner Vorgängerin Margaret Thatcher («I want my money back») in den 1980er-Jahren. Ein Austritt Grossbritanniens würde grosse Probleme verursachen, aber wohl mehr für das Vereinigte Königreich als für die EU.

Griechenland 1981 in die EU aufzunehmen, war nötig und richtig. Es galt, die junge, wiedergewonnene Demokratie zu stabilisieren. Den kleinen fragilen Staat dann aber in die Währungsunion und den Schengen-Verbund zu lassen, war sehr sichtbar ein schwerer Fehler.

Man wusste um die Risiken, hoffte aber auf rasches wirtschaftliches Wachstum und tiefgreifenden politischen Kulturwandel in Athen. Der wachsende Wohlstand erfolgte jedoch auf Pump, und der Zugang zu günstigen Euro beförderte in ungeahnter Weise Korruption und Klientelismus in der griechischen Politik.

«Den Abgang Griechenlands hätte der Euro wohl mühelos verkraftet»

Herbert Stein zufolge wird das, was nicht endlos weitergehen kann, auch einmal enden: «What cannot go on forever won't.» Im Falle Griechenlands war dies 2010 der Fall. Mit dem Schutz der schwierigen, weil offenen Schengen-Aussengrenze in der Ägäis war Griechenland immer schon überfordert, die wachsenden Migrationsströme haben dies lediglich allgemein sichtbar gemacht.

«Scheitert der Euro, dann scheitert Europa» hiess es dann im ersten Halbjahr 2015 von Seiten der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel. Den Abgang Griechenlands hätte der Euro wohl mühelos verkraftet. Im Gegenteil, der Disziplin im Währungsverbund hätte ein Grexit auf längere Sicht eher gut getan.

Am Ende haben die hohen Opportunitätskosten einer mutwillig verursachten, grossen Euro-Krise wohl alle den Kompromiss wählen lassen: Die Griechen müssen sparen und reformieren, die Euro-Gruppe muss zahlen. Selbst das einvernehmliche Ende des gesamten Euro-Systems, dem seit Beginn der Schuldenkrise viele Politiker und Ökonomen in Gedankenexperimenten nachgehen, müsste den Kern der EU, den Binnenmarkt – von konjunkturellen Kollateralschäden einmal abgesehen – gar nicht tangieren.

«Dann scheitert zwar Schengen, aber natürlich nicht Europa»

Grossbritannien ist nicht im Euro-System und dennoch Teil der EU. Ohne Euro würden die jetzigen Mitglieder des Währungsverbundes lediglich auf das Integrationsniveau Grossbritanniens zurückfallen. Das wäre bedauerlich, aber längerfristig zu verkraften.

Und wenn der Grenzübertritt ohne Pass, der in Teil der EU und mit der Schweiz möglich ist, partiell, temporär oder gar komplett beseitigt werden müsste, weil der Schutz der Schengen-Aussengrenzen sehr sichtbar im Süden nicht funktioniert?

Dann scheitert zwar Schengen, aber natürlich nicht Europa, auch wenn der Vizepräsident der EU-Kommission, der Niederländer Frans Timmermans, dies Merkel paraphrasierend gerne so sieht.

«Erst die Einführung einer Visa-Pflicht wäre ein gravierender Einschnitt»

Drei der so genannten vier Freiheiten des EU-Binnenmarktes, nämlich der freie Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr wäre gar nicht betroffen. Auch der freie Personenverkehr innerhalb der EU wäre nicht verboten; jeder EU-Bürger kann in den Nicht-Schengen-Staat England reisen, wenn er sich an der Grenze ausweisen kann.

Erst die Einführung einer Visa-Pflicht zwischen EU-Staaten wäre ein wirklich gravierender Einschnitt, und daran denken noch nicht einmal die Briten, egal ob sie in der EU bleiben oder auch nicht.

Als Fazit lässt sich somit sagen: Die EU durchlebt zur Zeit eine Krise, wie es sie in ihrer Geschichte immer mal gab. Eine eigentliche Existenzkrise ist dies aber nicht.


Dieter Ruloff ist Professor emeritus für Internationale Beziehungen der Universität Zürich. Nach seinem Abitur 1967 studierte er an den Universitäten Frankfurt, Konstanz und Zürich Geschichte, Politikwissenschaft und Wirtschaftswissenschaft. 1971 erwarb er an der Universität Konstanz den magister artium (M.A.) in Geschichte und Politikwissenschaft, 1974 promovierte er an der Universität Zürich. 1980 erfolgte seine Habilitation an der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich. Zum Wintersemester 1987 wurde er an der Universität Zürich zum Titularprofessor ernannt.

Von 1990 bis 1993 war er Direktionsmitglied der Schweizer Grossbank UBS und dort mit der Leitung der Stabsabteilung für Länderrisiken betraut. 1993 wechselte er zurück an die Universität Zürich als Ordinarius für Internationale Beziehungen. Gleichzeitig übernahm er als Geschäftsführer die Leitung des Schweizerischen Instituts für Auslandforschung (bis 2008). Er ist Gründungsmitglied des Center for Comparative and International Studies der ETH und der Universität Zürich und war bis 2012 Direktor des Instituts für Politikwissenschaft an der Universität Zürich.

 

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