«Menschen gewichten Verluste höher als gleich grosse Gewinne», sagt der Wirtschaftsprofessor Ernst Fehr im Interview mit finews.ch. Dahinter stecke die Idee, dass Ereignisse oder Vorgänge, die in unserer Erinnerung leichter verfügbar seien, die Entscheidungen der Menschen stärker bestimmen würden als schwerer verfügbare Erinnerungen.

Wann immer der Ökonomie-Nobelpreis verliehen wird, steht der Name Ernst Fehr auf der Liste möglicher Preisträger. Der Professor für Mikrookönomik und Experimentelle Wirtschaftsforschung an der Universität Zürich ist unter anderem bekannt für seine Arbeiten zur Verhaltensökonomik. Sie untersucht, was Menschen in wirtschaftlichen Situationen tun. Nicht immer wird vernünftig gehandelt, wie Fehr und andere Ökonomen herausgefunden haben.

Herr Professor Fehr, von Philosophen der schottischen Aufklärung stammt der Spruch: «Die Gewohnheit führt uns durch das Leben». Menschen stehen auf, gehen ins Bad, frühstücken, ohne gross darüber nachzudenken, weil dieser Verlauf des Morgens für sie Gewohnheit ist. Die Betonung der Gewohnheit durch die Schotten kam nicht von ungefähr. Sie grenzten sich von französischen Philosophen ab, die betonten, dass den menschlichen Handlungen stets vernunftgetriebene Überlegungen vorangingen. Wer hat Recht? Die Schotten oder die Franzosen?

Gewohnheiten müssen nichts Unvernünftiges sein. Oft haben Gewohnheiten eine rationale Grundlage. Man putzt sich jeden Abend ohne zu überlegen die Zähne, weil man weiss, dass dies gut für die Gesundheit ist. Andererseits gibt es auch Gewohnheiten, die unvernünftig sind. Man isst zu spät, was dem Schlaf abträglich ist. Die Gewohnheit ist nicht per se unvernünftig.

Im Ökonomiestudium in den frühen 1990er-Jahren war der Homo oeconomicus die Standardannahme. Ein vernünftiges, rationales, eigennütziges Wesen, das alle Infos nutzt und dann unter Berücksichtigung seiner Haushaltskasse jene Güter erwirbt, die ihm den höchsten Nutzen bringen. Ist diese Annahme haltbar?

Der eine oder andere Ökonomielehrer erklärt den Homo oeconomicus falsch. Man meint damit nicht, dass die Menschen mit einem Hedonimeter (Nutzenmesser) durch die Gegend rennen, der ihnen beim Aldi-Besuch sagt, welche Ware im Regal den höchsten Nutzen bringt. Vielmehr dient der Ansatz nur dazu, Verhalten abbilden zu können.

«Gäbe es keinen staatlichen Zwang, für das Alter finanziell vorzusorgen, würden mehr Menschen im Ruhestand in Armut versinken»

Wenn also ein Konsument den Apfel einer Birne vorzieht, dann erhält der Apfel eine höhere Zahl zugewiesen, die wir Nutzen nennen. Das hat nichts mit substanzieller Nutzenmaximierung zu tun. Das ist aber nicht die ganze Antwort auf Ihre Frage. Individuen verhalten sich tatsächlich nicht immer rational. Die Menschen wollen zwar vernünftig handeln, können dies aber nur begrenzt. Kaum jemand ist mit Absicht irrational. Vieles ist aber zu komplex für vollständig rationale Entscheidungen.

Können Sie Beispiele dafür nennen?

Gäbe es keinen staatlichen Zwang, für das Alter finanziell vorzusorgen, würden mehr Menschen im Ruhestand in Armut versinken. Wer denkt schon mit 28 Jahren daran, wie die Welt im Alter von 70 Jahren aussehen wird? Viele Menschen lassen sich auf den Finanzmärkten von hohen, nicht zu haltenden Renditeversprechen täuschen. Wobei das natürlich nicht für alle gilt.

Sie sprechen von eingeschränkter Rationalität. Was ist denn darunter zu verstehen?

Ein Beispiel ist die Verfügbarkeitsheuristik. Dahinter steckt die Idee, dass Ereignisse oder Vorgänge, die in unserer Erinnerung leichter verfügbar sind, die Entscheidungen der Menschen stärker bestimmen als schwerer verfügbare Erinnerungen. Die meisten Menschen glauben beispielsweise, dass es mehr Morde als Selbsttötungen in Berlin oder New York gibt, obwohl es meistens mehr Selbsttötungen als Morde gab. Über Morde berichten die Medien viel, über Selbsttötungen kaum etwas.

«Menschen gewichten Verluste höher als gleich grosse Gewinne»

Die ganze Werbeindustrie beruht auf dieser Art der eingeschränkten Rationalität. Sie will diese leicht verfügbaren Erinnerungen schaffen. Ein anderes Beispiel ist die Verlustaversion. Menschen gewichten Verluste höher als gleich grosse Gewinne.

Was bedeutet all dies für die Wirtschaftspolitik?

Arbeitnehmer sind zum Beispiel eher bereit, Reallohnverluste durch Inflation hinzunehmen, als durch direkte Reduzierungen des Nominallohns. Anders gesagt: Man kommt als Arbeitnehmer eher damit zurecht, dass die Inflation die Kaufkraft des Lohnes schmälert, als wenn der Arbeitgeber eine Kürzung des Lohnes um X-Prozent verordnet.

«Ich halte diese Art von Nudging für begrüssenswert»

Von der Konsequenz her ist das genau das Gleiche. Es gibt einen Kaufkraftverlust. Auch zum Verständnis der Krise des Euro tragen solche Verhaltensmuster bei. Vor der Einführung des Euro konnten Länder durch eine Abwertung ihrer Währung die reale Kaufkraft von Löhnen senken und sich so an veränderte wirtschaftliche Rahmenbedingungen anpassen. In einer Währungsunion geht das aber nicht mehr. Reallohnsenkungen kann man hier nur durch Nominallohnsenkungen erreichen.

Verordnete Lohnkürzungen empfinden Menschen aber als unfair. Eine Abwertung der Währung wird aber eher hingenommen, auch wenn sie ebenfalls einen Kaufkraftverlust darstellt, da man mit der eigenen Währung weniger ausländische Güter kaufen kann.

Soll sich der Staat die kleinen Schwächen der Menschen im Sinne des Allgemeinwohls zunutze machen? Die US-Ökonomen Thaler und Sunstein haben ja Nudging gefordert. Wer nudget, stupst jemand an, damit dieser etwas Sinnvolles tut. Das Beispiel von Thaler und Sunstein: Die betriebliche Altersvorsorge ist für eine Gesellschaft nützlich. Deshalb soll jeder eine bekommen, es sei denn er widerspricht. Auf diese Weise gibt es mehr betriebliche Altersvorsorge, als wenn sich die Arbeitnehmer selbst aktiv um solch eine Form der Altersvorsorge kümmern müssen.

Ich halte diese Art von Nudging für begrüssenswert.

Aber ist das nicht ein Eingriff in die menschliche Freiheit?

Ich kann diese Kritik nicht nachvollziehen, weil das Anstupsen die Freiheit viel weniger einschränkt im Vergleich zu staatlichen Verboten oder Steuern. Ausserdem sollten diejenigen, die diese Kritik äussern, sich zuerst einmal die Marketingindustrie vorknöpfen. Das ist eine einzige Nudging-Veranstaltung, die dem Verbraucher gelinde gesagt nicht immer nützt.

«Menschliches Verhalten ist nicht durch unveränderbare äussere Kräfte determiniert»

Wenn der Staat Nudging betreibt, beruht das auch auf einem demokratisch legitimierten Prozess. Wenn hingegen Unternehmen Nudging betreiben, dann fehlt diese Legitimation und es sind private Unternehmensinteressen im Spiel.

Gibt es so etwas wie Freiheit? Oder sind wir Sklaven unserer Schwächen?

Menschliches Verhalten ist nicht durch unveränderbare äussere Kräfte determiniert. Man kann sich ja der Schwächen bewusst werden. Im Tennis trauern die Spieler manchmal den verlorenen Punkten nach. Nichts ist aber schlimmer als das, denn es behindert die Konzentration auf den nächsten Punkt. Entsprechend kann man seine persönliche Haltung anpassen und sich immer voll auf den nächsten Punkt konzentrieren.


Ernst Fehr ist ein österreichisch-schweizerischer Wirtschaftswissenschaftler. Er studierte Volkswirtschaftslehre an der Universität Wien. Seit 1994 lehrt er an der Universität Zürich, wo er Professor für Mikroökonomik und Experimentelle Wirtschaftsforschung am Institut für Volkswirtschaftslehre ist. Seine Forschung umfasst die Bereiche der Entwicklung der menschlichen Zusammenarbeit und Sozialität, insbesondere Fairness, Reziprozität und begrenzte Rationalität (Verhaltensökonomie respektive Behavioral Economics). Er ist auch bekannt für seine Beiträge zu dem neuen Gebiet der Neuroökonomie sowie zur Behavioral Finance und Experimentalökonomie.

 

 

 

 

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