Krug-Chefönologin: «Exzellenz stets vor Bequemlichkeit»
Julie Cavils tägliches Wirkungsfeld liegt in der Champagne. Sie lebt nur wenige Minuten vom historischen Hauptsitz von Krug Champagne in Reims entfernt, verbringt ihre Tage aber meist draussen in den Rebbergen – im engen Austausch mit den Winzern, die das Haus mit Trauben von höchster Qualität beliefern.
Wie viele grosse Champagner-Maisons bezieht Krug einen Grossteil seiner Trauben von externen Winzern. Doch in diesem Fall gelangen nur Trauben mit herausragendem Charakter in den Keller. Diese sorgfältige Auswahl liegt im Kern von Julie Cavils Funktion als Maître de Caves – ein Titel, den sie im Januar 2020 von ihrem langjährigen Vorgänger Eric Lebel übernommen hat.
Der Pioniergeist von Johann-Joseph Krug
Vor wenigen Wochen zerstreute sich das sechsköpfige «comité de dégustation» rund um die Welt, um die 173. Edition der Krug Grande Cuvée zu präsentieren.
Diese Cuvée verkörpert die ursprüngliche Vision von Johann-Joseph Krug (1800–1866): In jedem Jahr einen grossen Champagner zu schaffen – unabhängig von der Witterung – eine Idee, die die heute praktisch universelle Praxis der Non-Vintage-Champagner begründete.
Julie Cavil mit Chef Federico Palladino. (Bild: LIEB.ICH Productions)
Im Rahmen dieser Tour kam Julie Cavil in die Schweiz, wo sie den kürzlich abgefüllten Champagner in der Osteria Enoteca Cuntitt an einem der südlichsten Punkte des Landes präsentierte. Dort inszenierte Krug-Botschafter und Küchenchef Federico Palladino – Michelin-prämiert sowie von GaultMillau als «Entdeckung des Jahres» 2022 und «Aufsteiger des Jahres» 2024 geehrt – ein rustikales Fine-Dining-Erlebnis in perfektem Einklang mit dem Champagner.
finews.com sprach mit Julie Cavil über ihren Weg von der Werbung zum Wein, ihre Philosophie der Bescheidenheit und darüber, was es braucht, um einen Krug-würdigen Champagner zu keltern.
Frau Cavil, Sie stammen nicht aus einer typischen Wein-Familie. Welche Rolle spielte Wein in Ihrer Kindheit?
Wein war immer irgendwie da, aber nie zentral. Er wurde nicht täglich getrunken – eher zu besonderen Anlässen oder bei Abendessen mit Freunden.
Und heute? Trinken Sie regelmässig Wein?
Als Französin ist mit der Apéritif sehr wichtig. Mein Mann und ich nehmen uns jeden Abend eine Stunde Zeit, um unseren Tag zu besprechen. Unter der Woche versuchen wir aber, alkoholfrei zu bleiben – was allerdings nicht immer gelingt.
Bevor Sie in die Welt des Weines kamen, waren Sie in der Werbung tätig. War Ihre Rolle eher strategisch oder kreativ?
Strategisch. Ich habe eine Business School in Lille besucht und anschliessend in Werbeagenturen gearbeitet, vor allem im Bereich Strategie.
«Es ist, als würden jedes Jahr andere Musiker dasselbe Werk zur Aufführung bringen.»
Hat Ihnen dieser Hintergrund bei Krug geholfen?
Auf jeden Fall. Besonders in der Führung von Teams. Ich sage oft: Man hält sich gemeinsam an einem Seil fest, jeder hakt sich ein, bewegt sich eigenständig, aber alle bleiben auf Kurs. Meine Aufgabe ist es, die Vision vorzugeben, zu inspirieren und die Abläufe geschmeidig zu halten. Ich muss nicht die grösste Expertin sein – dafür habe ich ein brillantes Team. Meine Stärke ist es, zu motivieren, Klarheit zu schaffen und jedem seine Rolle im grossen Ganzen aufzuzeigen.
Erzählen Sie uns von Ihrem Team.
Wir sind zu sechst – Männer und Frauen, einige seit langem dabei, andere neu. Alle bringen unterschiedliche Perspektiven und Charaktere ein. Es wäre fatal, wenn Entscheidungen allein getroffen würden. Als Team arbeiten wir eng abgestimmt. Jeden Morgen starten wir gemeinsam, dann geht jeder an seinen Bereich. Um 11 Uhr treffen wir uns zur Verkostung.
Die 173. Edition der Krug Grande Cuvée. (Bild: LIEB.ICH Productions)
Jeden Tag degustieren – wird das nicht mit der Zeit eintönig?
Ganz und gar nicht. Die Degustation ist der Moment, in dem alles zusammenkommt: die Arbeit in den Weinbergen, die Entscheidungen für Weinlese – alles kulminiert im Glas. Es ist der Augenblick, in dem wir mit dem Orchestrieren beginnen und die Cuvée zum Leben erwecken. Für mich ist das überhaupt nicht repetitiv, sondern jedes Mal faszinierend.
Sie kommen nicht aus einer Weinregion. Wie kam der Wechsel von der Werbung zu Krug zustande?
Mit 17 begann ich, mich für Wein zu interessieren. In Paris hatte ich einen Weinhändler in der Nachbarschaft, der Degustationen veranstaltete. Ich war fasziniert, wie unterschiedlich Weine von aneinandergrenzenden Parzellen schmecken können. Daraus wurde eine Leidenschaft. Gleichzeitig wollten mein Mann und ich raus aus Paris, mehr Balance, ein Garten, ein etwas handfesteres Leben. Werbung ist hektisch, alles ist schnelllebig. Bei Krug denkt man in Jahrzehnten. Was man heute entscheidet, wird erst in zehn Jahren beurteilt. Ich liebe diese Langfristigkeit.
«Meine Aufgabe ist es, zu inspirieren und Dinge in Bewegung zu halten.»
Ein direkter Einstieg bei Krug ist doch eher ausserordentlich – wie kam es dazu?
Ich hätte das selbst nicht geglaubt, vor 20 Jahren. Ich kam nicht mit dem Ziel zu Krug, irgendwann einmal Chef de Caves zu werden. Nach dem Önologiestudium machte ich ein Praktikum bei Moët & Chandon und Dom Pérignon. Normalerweise bleibt man für eine Lese – ich blieb für zwei, dann eine dritte. Es lief gut. Dann wurde eine Stelle bei Krug frei. Ich habe Gelegenheiten ergriffen, Vorschläge gemacht, schrittweise mehr Verantwortung übernommen. Mein Vorgänger Eric und ich haben schnell gemerkt, dass es auf eine langfristige Übergabe hinauslaufen würde. Es war, als ob er auf der Bühne stand und ich hinter den Kulissen lernte – und irgendwann wechselten wir die Plätze. Diese Stabsübergabe war so natürlich, dass nie Druck aufkam. Auch heute spüre ich keinen Druck – dank dieser langen Einarbeitung, unseres starken Teams und der Philosophie bei Krug: Der Chef de Caves setzt am Schluss nur die Flagge, wenn der Gipfel erreicht ist. Der eigentliche Aufstieg ist ein Gemeinschaftswerk.
«Meine Aufgabe ist es, die Vision zu liefern, zu inspirieren und die Dinge geschmeidig in Bewegung zu halten.»
In der Werbung geht es oft ums Ego. Ist das bei Ihrer aktuellen Tätigkeit anders?
Vollkommen. Wir sind für das Haus da, nicht für uns selbst. Niemand denkt an den nächsten Job – wir alle wollen bleiben, bis es nicht mehr geht. Das verändert alles.
In Ihrer Position braucht einen aussergewöhnlichen Gaumen...
Nein! Die Fähigkeit zum Degustieren ist nicht das Wichtigste – Bescheidenheit ist es. Der Geschmackssinn ist archaisch – wir alle haben ihn. Aber unsere Gesellschaft ist visuell geprägt – irgendwann hören wir auf, zu schmecken und zu riechen. Ich habe meinen Töchtern beigebracht, schon früh Gerüche zu erkennen – einfach aus Neugier. Es geht nicht um Talent, sondern um Übung und Offenheit. In der Champagne habe ich gelernt, dass man nie auslernt. Methoden verändern sich. Man muss neugierig bleiben und demütig. Unser ehemaliger Präsident Rémy Krug sagte einmal: «Vergleiche dich nie mit anderen – nur mit deiner letzten Kreation.» Dieses Streben nach Perfektion prägt unsere Arbeit.
Krug-Event in der Osteria Enoteca Cuntitt. (Bild: LIEB.ICH Productions)
Unterscheiden sich Ihre Cuvées von denen Ihres Vorgängers?
Die Inspiration ist dieselbe – es ist, als würden jedes Jahr andere Musiker dasselbe Werk zur Aufführung bringen. Kontinuität bedeutet nicht Stillstand. Wir entwickeln uns weiter, ohne das Endergebnis zu kompromittieren. Unsere neue Kellerei zum Beispiel wurde so konzipiert, dass sie den Krug-Stil bewahrt, aber die Arbeitsbedingungen verbessert. Wir haben Prototypen entwickelt, damit das Ergebnis identisch bleibt, aber der Prozess für das Team leichter und sicherer wird.
«Der Geist des Gründers ist allgegenwärtig.»
Was sind die Grundprinzipien von Krug?
Details. Ein einziger Kompromiss macht aus einem grossen Wein einen nur noch guten. Zweitens: stets Exzellenz über Bequemlichkeit stellen – auch wenn der einfache Weg verlockend ist. Drittens: Vielfalt zulassen – Krugs Kunst des Blendings lebt vom Charakter und den Unterschieden der einzelnen Weine. Wir vinifizieren jede Parzelle einzeln und arbeiten mit rund 100 Winzern in der Champagne, welche die Trauben ihrer jeweiligen Parzellen konstant verkosten. Auch wir vom Team verbringen sehr viel Zeit im Weinberg – zum Beispiel wird der Lesezeitpunkt nicht allein durch Zuckerwerte, sondern durch Verkostung bestimmt. Und schliesslich: Der Geist des Gründers ist allgegenwärtig. Man wartet nicht auf ein «gutes Jahr», um grossen Champagner zu machen – das liegt bei Krug in der DNA. Olivier Krug verkörpert diesen Geist und trägt die Philosophie des Hauses unermüdlich in die Welt. Trotz unserer kleinen Struktur und flachen Hierarchie bringt sich jeder strategisch ein und lebt die Werte des Hauses mit.
Wie begegnet Krug dem Klimawandel?
Die Auswirkungen sind deutlich – vor allem extreme Wetterschwankungen. Die bisherigen Entscheidungsgrundlagen reichen nicht mehr. Bei uns bestimmt mittlerweile einzig der Geschmack der Trauben den Erntezeitpunkt. Wir steuern das Blätterdach, sorgen für Schatten, passen die Begrünung an. Langfristig testen wir neue Sorten und Methoden, auch in Zusammenarbeit mit anderen Häusern in der Champagne. Es gibt keine Wunderlösung – nur Bescheidenheit und den Willen, dazuzulernen.
Die Champagnerbranche steht momentan etwas unter Druck. Wie wirkt sich das auf Krug aus?
Ich halte mich bewusst fern von kurzfristigen Marktbewegungen. Es gab immer schon Krisen – 2008, Covid. Bei Krug treffen wir allerdings Entscheidungen, die sich erst in zehn Jahren bewähren müssen.
Julie Cavil ist Maître de Caves und Directrice Œnologie et Relations Vignoble bei Krug Champagne, wo sie seit 2006 tätig ist. Nach einer Karriere in der Werbung absolvierte sie ein Önologiestudium in Avize und an der Université de Reims. Sie steht für eine moderne, integrative Führungsart, die auf Teamgeist, Bescheidenheit und handwerklicher Exzellenz gründet.