Stadtflucht, ratlose Banker, politische Unwägbarkeiten und ein gnadenloser Wettbewerb bringen ganze Finanzplätze ins Wanken. Corona ist nur der Beschleuniger für eine epochale Strukturbereinigung, die jetzt begonnen hat und unwiderruflich ist.

Es sind verstörende Entwicklungen, die sich seit einigen Monaten in der internationalen Finanzwelt beobachten lassen. Manche Banker wollen nicht mehr ins Büro zurück, andere wissen gar nicht erst, ob sie überhaupt noch gebraucht werden; währenddessen verlagern grosse Geldhäuser ganze Geschäftsfelder von einem Land ins andere, und seit Corona den Geschäftsalltag vollends auf den Kopf stellt, vegetieren viele einstmals dynamische Finanzplätze menschenverlassen vor sich hin, wie Bilder aus London etwa zeigen.

Dies alles geschieht vor dem Hintergrund steigender Kreditausfälle und immer höheren Kosten. Die unaufhaltsam fortschreitende Digitalisierung trägt ihr Übriges dazu bei, dass die Zeiten der grossen Finanzplätze am Ende angelangt ist. Hinweise dafür gibt es genügend – auch in der Schweiz.

Grösstes urbanes Immobilienprojekt der Schweiz

Finanzstarke Investoren tüfteln bereits an neuartigen Arbeitsplatz-Konzepten in Ski- und Feriengebieten, wie finews.ch berichtete, und in Städten wie Zürich und Genf ziehen die grossen Banken zusehends in die Agglomeration hinaus. Die Westschweizer Privatbank Pictet will im Genfer Einzugsgebiet Praille-Acacias-Vernets bis 2025 einen 24-stöckigen Büro- und Wohnturm bauen, angeblich das grösste urbane Immobilienprojekt der Schweiz.

Dort, weitab des Zentrums der Calvinstadt, sollen dereinst 900 Beschäftige arbeiten. Auch die Privatbank Lombard Odier baut einen neuen globalen Hauptsitz in Bellevue ausserhalb von Genf mit nicht weniger als 2'600 Arbeitsplätzen. «Wir werden unsere Kunden an einem aussergewöhnlichen Standort willkommen heissen, der leicht erreichbar ist», verspricht Patrick Odier, Senior Managing Partner des Instituts. 

Es sind nicht bloss Kostenüberlegungen, die diese epochalen Veränderungen beschleunigen. Vielmehr zeigt dies klar, dass das Konzept des Finanzplatzes, wie man es über Jahrzehnte, wenn nicht gar Jahrhunderte hinweg gekannt hat, schlicht und einfach ausgedient hat. Ursachen gibt es viele dafür.

1. Globale Nomaden

Vermögende Personen und Familien haben heutzutage mehrere Wohnsitze in der Welt. Entsprechend wollen sie von überall her ihre Bankgeschäfte tätigen. Einen spezifischen Finanzplatz explizit aufzusuchen, drängt sich für sie nicht länger mehr auf.

2. Ansprüche der Schwellenländer

Bis vor 25 Jahren dominierte ein knappes Dutzend Finanzzentren das globale Geldgeschäft. Dazu zählten Städte mit einer langen Bankentradition wie London, New York, Tokio oder auch Genf. Dann kam Singapur und zeigte auf, dass man im Prinzip überall auf der Welt die Infrastruktur für einen Finanzplatz aufbauen kann – und je mehr Wohlstand und Vermögen zunehmend in Asien entsteht, desto eher sind auch Schwellenländer auf den Geschmack gekommen, sich als Finanzplatz zu profilieren (siehe dazu auch Punkt 6).

3. Politik verunsichert

Politische Entwicklungen, wie man sie vor zehn Jahren noch kaum für möglich gehalten hätte, tragen zusätzlich dazu bei, dass einstmals mächtige Finanzplätze sich im Niedergang befinden. Bestes Beispiel ist London: Mit dem Brexit hat die Themsestadt massiv an Attraktivität eingebüsst (siehe auch Punkt 4). Die vermögende Klientel verlagert aufgrund der neuen politischen Unwägbarkeiten ihr Geld weg von London und mittlerweile sogar in die EU – wäre hätte das vor fünf Jahren gedacht?

4. Geld flieht

Auch die Banken denken mittlerweile um und verzichten auf bislang Bewährtes, sobald die Situation brenzlig wird. Bestes Beispiel ist Hongkong – bis vor kurzem noch einer der unbestreitbar wichtigsten Finanzplätze in Asien: Doch seit China praktisch in monatlicher Kadenz den politischen Druck auf die ehemalige britische Kronkolonie erhöht und die Bevölkerung drangsaliert, nehmen die Banken – vorerst noch eher heimlich – Reissaus, wie auch finews.ch berichtete.

Ein Zeichen setzte unlängst auch J.P. Morgan in London. Wegen des Ausscheidens Grossbritanniens aus der EU verlagert der US-Finanzgigant etwa 200 Milliarden Euro von London nach Frankfurt und dürfte damit in Deutschland – gemessen am Bilanzvolumen – zum sechstgrössten Geldhaus avancieren, wie dieser Tage in den Medien zu lesen war.

5. Zögerliche Expats

Galten internationale Jobs in der Finanzbranche lange als Privileg, die Welt kennenzulernen, sträuben sich nun immer mehr Bankleute, zu Expats zu mutieren. Zu unsicher erscheint ihnen aufgrund von Corona und politischen Ereignissen (siehe Punkt 4) ein solcher Schritt. Londoner Bankleute, die sich bereit erklärt hatten, an einen EU-Standort zu wechseln, sträuben sich nun dagegen, wie die «Financial Times» (Artikel kostenpflichtig) diese Woche berichtete.

6. Aggressiver Standort-Wettbewerb

Weil es für viele Länder mittlerweile fast schon zum guten Ton gehört, Ambitionen auf einen Finanzplatz anzumelden, ist ein aggressiver Standortwettbewerb zwischen einzelnen Zentren ausgebrochen. Da messen sich nicht nur Seoul oder Kuala Lumpur auf Kosten von Hongkong miteinander, sondern beispielsweise auch Astana in Kasachstan oder Gujarat in Indien. Ganz nach dem einstigen Werbeslogan der Zürcher Verkehrsbetriebe proklamieren immer mehr Metropolen: «Ich bin auch ein Finanplatz».

7. Digitalisierung erübrigt physische Präsenz

Aufgrund der Corona-Pandemie hat die Digitalisierung der Finanzwelt eine bislang noch nie dagewesene Eigendynamik verliehen. Eine Eigendynamik, die umso virtueller wird und darum praktisch jede physische Präsenz zunehmend überflüssig macht.

Was bedeutet das für die Schweiz? Zugegeben, die Vorteile des hiesigen Finanzplatzes sind nach wie vor viel wert: ein verlässliches politisches System, Rechtssicherheit, eine stabile Währung, sehr gut ausgebildete Arbeitskräfte, international angesehene Hochschulen, ein wirtschaftsfreundliches Umfeld sowie die zentrale Lage im Herzen Europas und die verkehrsfreundliche Infrastruktur. Hinzu gesellen sich sogenannte Softskills wie die weit verbreitete Vielsprachigkeit, die hohe Lebensqualität verbunden mit einer liberalen Lebensart.

Finanzplatz zum Erlebnis machen

Doch das allein wird in Zukunft kaum genügen, um sich als Finanzplatz profilieren zu können. Neue innovative Vorteile sind gefragt. Ansätze hat finews.ch bereits schon früher ausgelotet. Dazu gehören die Datensicherheit oder virtuelle Währungen sowie andere technologische Errungenschaften wie die Blockchain. Eine «trusted counterparty» in der Informatik habe heutzutage mindestens so viel Wert wie eine sichere Bankbeziehung im Finanzwesen, sagte die Schweizer Finanzprofessorin Sita Mazumder zu finews.ch.

Generell kann die Schweiz nur bestehen, wenn sie das Thema Finanzen zum «Erlebnis» umgestaltet – aufgrund des vorhandenen Know-hows, der bestehenden Qualitätsstandards sowie als globales Zentrum für nachhaltige Investments. Gerade seit dem Ausbruch der Coronakrise ist die Nachfrage der Kunden nach solchen Anlagen massiv gestiegen – auch im Zusammenhang mit dem Megathema «Klimawandel». In diesem Umfeld kann der Schweizer Finanzplatz durchaus überleben.

 

 

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