Frédéric Leroux: «Wer hat Recht, was die langfristige Inflation betrifft?»
Während die kurzfristige Konjunkturanalyse oft im Vordergrund steht, ist es in der aktuellen Situation ratsam, den Blick auf tiefgreifendere, strukturelle Veränderungen zu richten, schreibt Frédéric Leroux in seinem Beitrag für finews.first.
In dieser Rubrik nehmen Autorinnen und Autoren Stellung zu Wirtschafts- und Finanzthemen.
Seit 2021 haben sich wesentliche strukturelle Trends, die langfristig die Preisentwicklung steuern, umgekehrt. Sie verleihen der Inflation nun strukturellen Rückenwind. Die weit verbreitete und konsensfähigere Analyse des Konjunkturzyklus lässt hingegen darauf schliessen, dass in den grossen Industrieländern mit einem dauerhaften Rückgang der Inflation auf den Zielwert von 2 Prozent zu rechnen ist, auch wenn die Zollpolitik von Donald Trump diese Lesart derzeit zumindest in Bezug auf die USA erschwert.
Aber ist die Betrachtung des Konjunkturzyklus (Business Cycle) ein geeigneter Ansatz, um die langfristige Preisdynamik zu prognostizieren?
«Fed-Chef Jerome Powell verlor nicht auch nur ein Wort über mögliche Auswirkungen strukturellerer Kräfte.»
Im Jahr 2021 erklärte Jerome Powell, dass die hohe Inflation – die er nicht hatte kommen sehen – nur vorübergehend sein werde. Der Fed-Chef hat sich in Bezug auf das Ausmass der Teuerung, die an der 10 Prozent-Marke kratzte, und auch in Bezug auf die Dauer des Inflationsschubs minimal verschätzt.
Im vergangenen Sommer näherte sich die US-Inflation wieder ihrem Zielwert. Der Fed-Chef wiederholte seine Einschätzung von 2021–2022, ohne auch nur ein Wort über mögliche Auswirkungen strukturellerer Kräfte zu verlieren.
Vier Jahrzehnte der Disinflation (1980 – 2020) haben das Vertrauen der Zentralbanker in ihre eigene Fähigkeit, die Inflation zu kontrollieren, gestärkt. Nun wird argumentiert, dass der «Trump-Schock» über seine anfänglichen inflationären Auswirkungen hinaus – die sich vermutlich auf die USA konzentrieren – vor allem rezessive und damit mittelfristig disinflationäre Effekte haben wird.
Wer sich für die Vorhersage der künftigen Inflation auf den kurzfristigen Konjunkturzyklus stützt, ist umso mehr davon überzeugt, dass die Produkte, die in den USA nicht mehr ihren üblichen Absatzmarkt finden, überall sonst zu niedrigen Preisen abgesetzt werden müssen, sowie durch die allgemein erwarteten deflationären Auswirkungen der künstlichen Intelligenz. Ihre Schlussfolgerung ist, dass die Inflation kein Thema mehr ist.
«Die auf kurzfristige Entwicklungen basierende Analyse ist selten geeignet, die Inflationsentwicklung zu prognostizieren.»
Dieser Ansatz hat natürlich durchaus seine Berechtigung und ist nicht unmittelbar von der Hand zu weisen. Diese Art der ausschliesslich auf kurzfristigen Entwicklungen basierenden Analyse ist jedoch selten dafür geeignet, die zukünftige Inflationsentwicklung zu prognostizieren.
Eine mögliche Illustration dessen ist die fehlerhafte Einschätzung der Zentralbanker im Jahr 2021. Eine weiteres Beispiel stellt die Ära von Alan Greenspan dar. Dieser sprach angesichts dessen, dass er die überaus niedrige Inflation und die ebenso niedrigen Zinsen Ende der 1990er Jahre nicht nachvollziehen konnte, von einem «conundrum» – einem Rätsel.
In diesen beiden Fällen bestand der Fehler vermutlich darin, dass man sich auf die kurzfristigen Entwicklungen konzentrierte und die über den Konjunkturzyklus hinausgehenden, umfassenden strukturellen Kräfte ausser Acht liess.
«China überschwemmte die Welt mit billigen, von in grosser Zahl vorhandenen, jungen Arbeitskräften hergestellten Produkten.»
Mindestens fünf wesentliche Faktoren wirkten in den 1990er-Jahren gemeinsam auf eine niedrige Inflation hin.
Beim ersten handelt es sich um einen starken demografischen Trend, der durch die jährliche Zunahme des Anteils der Sparer das für Investitionen und Produktivitätssteigerungen zur Verfügung stehende Kapital wachsen liess.
Der zweite Faktor betrifft die friedliche geopolitische Lage, die der Konjunktur äusserst zuträglich war, die Ende des zweiten Weltkriegs einsetzende Globalisierung vorantrieb und eine Disinflation aufgrund ricardianischer Effekte ermöglichte.
Der dritte Faktor war ein starkes und anhaltendes Wachstum der Energieproduktion, das dem Wirtschaftswachstum nach zwei Ölpreisschocks mit stagflationären Auswirkungen sehr zugute kam.
Beim vierten Faktor handelt es sich um die gesellschaftliche Situation: Die aus 15 Jahren Inflation resultierende Ablehnung förderte die wirtschaftliche Effizienz.
Der fünfte Faktor schliesslich war die Altersstruktur in China. Das Land überschwemmte die Welt mit billigen, von in grosser Zahl vorhandenen, jungen Arbeitskräften hergestellten Produkten.
«Die geopolitische Lage erschwert zunehmend die Möglichkeit einer Disinflation durch Handel.»
Die Wiederöffnung der Volkswirtschaften nach der Pandemie liess die Inflation sprunghaft ansteigen – eine Dynamik, die aufgrund des zeitgleichen Richtungswechsels bei den genannten fünf Faktoren wahrscheinlich noch viele Jahre anhalten wird. Die demografische Entwicklung wird künftig für einen geringeren Anteil an Sparern in der Bevölkerung sorgen.
Die geopolitische Lage ist weltweit angespannt und erschwert zunehmend die Möglichkeit einer Disinflation durch Handel (Trumps Wahl ist eine Folge der geopolitischen Trendwende). Die Energiepreise steigen aufgrund der Energiewende und der geopolitischen Spannungen. Auf gesellschaftlicher Ebene wird der Wert der Arbeit immer weniger geschätzt, und schliesslich fehlt eine organisierte Kraft, die anstelle von China auf die weltweiten Löhne einwirkt.
«Die zweite Inflationswelle hat in den USA wahrscheinlich bereits begonnen.»
Sind diese langfristigen Faktoren nicht von Natur aus besser geeignet als eine Analyse des kurzfristigen Konjunkturzyklus, um zu einer Einschätzung der mittelfristigen inflationären Tendenzen zu gelangen? Einen ersten Höhepunkt erreichte die besagte Inflation Ende 2022 in Europa und den USA. Die zweite Inflationswelle hat in den USA wahrscheinlich bereits begonnen. Zu glauben, dass sie nicht über die USA hinausschwappt oder dass ihr keine weiteren Wellen folgen werden, ist gefährlich.
Diese nahezu deterministische Betrachtung der Inflation ist weder ein klassischer noch ein vom Konsens getragener Ansatz. In ihrer Logik ist sie jedoch so prägnant, dass wir sie zumindest geringfügig in unsere Anlagestrategie einbeziehen.
Frédéric Leroux ist Head of Cross Asset bei Carmignac.