Europa ist ein Kontinent der Vielfalt. Und so wünscht sich Thomas Sutter von der Bankiervereinigung zur Lösung der Probleme mehr Realitätssinn – und weniger Ideologie.

Thomas_Sutter_119x178Thomas Sutter ist Leiter Kommunikation und Mitglied der Geschäftsleitung bei der Schweizerischen Bankiervereinigung

Brüssel ist seit Jahren im Dauerstress. Fast täglich fliegen Regierungsjets die EU-Kapitale an. Eine Krisensitzung jagt die andere. Finanziell wird mit der ganz grossen Kelle angerichtet. Brandmauern werden eingerissen und neue aufgestellt, deren Halbwertszeit atemberaubend kurz erscheinen.

Allen vorgeschlagenen Lösungen liegen folgende Glaubensätze zu Grunde: Es braucht zuerst viel mehr Geld, die Reformen kommen dann schon irgendwie. Es braucht mehr Zentralisierung und nicht mehr Subsidiarität. Und schliesslich ganz beliebt: Die Märkte sind an allem schuld. «Brüssel» macht «Rom» Konkurrenz als unfehlbare Institution.

Hier liegt meiner Meinung nach das grösste Problem in «Brüssel», und leider auch bei den Mainstream-Meinungsführern aus Politik und Medien. Man glaubt, was man glauben will und verstellt sich den Realitäten. Der Tunnel wird mit jeder neuen Hiobsbotschaft aus dem Club Med enger, die Pupillen ob des monetären Dopings weiter und der Kater, wenn die Wirkung verfehlt wird, grösser. Man glaubt dem eigenen Spin: Perception is reality.

Doch was in der Kommunikation Gültigkeit hat, stimmt in der realen Welt leider nicht.

Natürlich kann auch ich keine Lösung für diese epochale Krise bieten. Nur weiss ich, dass der erste Schritt für eine Lösung immer die Akzeptanz von Realitäten ist. Im Sommer bin ich mit dem Auto bis an die rumänische Schwarzmeer-Küste gefahren. Viel Zeit also zum Beobachten und Nachdenken.

Wo ist Brüssel? Weit weg

Die Landschaften sind schön und abwechslungsreich und die Leute mit jedem Kilometer Richtung Osten herzlicher und hilfsbereiter. Nur wirtschaftlich sieht es anders aus. Wer diese 2000 Kilometer fährt, erfährt unglaubliche Unterschiede. Armut ist an jeder Strassenecke sichtbar. Korruption und Rechtsunsicherheit verhindern Wachstum und Optimismus.

Wer sehen will, der sieht, dass Brüssel weit weit weg ist.

Anders als auf den Hochglanz-PR-Broschüren werden die fast unüberbrückbar scheinenden Unterschiede in Bezug auf die wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Realität und Entwicklung sichtbar. Europa ist nicht ein Kontinent der Einheitlichkeit, sondern der Vielfalt.

Wenn schon die «blühenden Landschaften» in Ostdeutschland auch nach 20 Jahren und hunderten von Milliarden Euro Transferzahlungen immer noch zu selten eingetroffen sind – wie soll dies angesichts der immer noch weit verbreiteten hässlichen Plattenbauten oder den vielen aus den 50er-Jahren stammenden Schwerindustriekonglomerate in Südosteuropa rascher und günstiger geschehen?

Wir sehen: Schönheit und Ungleichheit

Reich an Erlebnissen überquere ich bei St. Margrethen wieder die Grenze. Was kann getan werden, frage ich mich?

Auch ich bin ratlos. Ein Anfang ist mehr Realitätssinn – jenseits von Ideologie und Wunschdenken. Ein erster Schritt dazu: Statt mit dem Jet von Sitzung zu Sitzung und von Luxushotel zu Luxushotel zu reisen, sollte jeder EU-Parlamentarier oder Regierungschef einmal mit dem Auto oder dem Zug Europa von Nord nach Süd oder von West nach Ost durchqueren. Er wird einen unglaublich schönen Kontinent vorfinden. Er wird grosse Ungleichheit und Unterschiede antreffen. Und er wird sein Bild ändern.

Er wird erkennen, dass die kreativen, unternehmerischen Kräfte nicht durch mehr Bürokratie aus Brüssel oder mehr Zentralstaat geweckt werden, sondern in dem man den Leuten Freiheiten lässt und sie an den Entscheidungen und – ganz wichtig – auch am Erfolg partizipieren lässt. Es gibt übrigens im Herzen von Europa ein Land, welches genau dies erfolgreich praktiziert.