Santosh Brivio: «US-Zölle sind nicht das einzige Übel für die Schweiz»
Der erste Schock über die US-Zölle scheint überwunden zu sein. Diesen Eindruck erhält zumindest, wer das mediale Wehklagen über Donald Trumps Zollhammer verfolgt.
Vielleicht ist im schnelllebigen Newsflow der heutigen Zeit die vertiefte Auseinandersetzung mit den 39-prozentigen US-Zolle einfach bereits durch andere geopolitisch relevantere Entwicklungen verdrängt worden.
Vielleicht haben sich die Schweizer Unternehmen inzwischen aber auch ein Stück weit mit der neuen Realität arrangieren können und versuchen nun, das Beste daraus zu machen. «Jammern bringt nichts, packen wir es an und meistern auch diese Krise!»
Ungemach kommt auch aus dem Norden
Eine Rückbesinnung auf eine urhelvetische Tugend also? Das wäre nicht nur löblich, sondern wahrscheinlich auch die einzig richtige Geisteshaltung. Zumal unsere Wirtschaft mit ihren hochqualitativen Produkten, ihrer Zuverlässigkeit und ihrem guten Ruf durchaus noch Asse im Ärmel hat.
Aller Unverzagtheit zum Trotz muss man jedoch anerkennen, dass unser Aussenhandel vor herausfordernden Zeiten steht. Zumal das Ungemach nicht nur aus dem Weissen Haus stammt, sondern bereits vor der eigenen Haustür beginnt.
Schönfärberisches «Stagnieren»
Denn die deutsche Wirtschaft befindet sich in einer bedrückenden Lage: Insolvenzen erreichen Niveaus wie seit zwei Jahrzehnten nicht mehr, wie die jüngsten Daten des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) offenlegen. Die Industrie verliert international an Boden, und in den revidierten Wachstumsstatistiken zeigt sich, dass das vermeintliche und etwas schönfärberische «Stagnieren» tatsächlich eine tiefe und lange Rezession ist.
Oder konsternierender formuliert: Unser nördlicher Nachbar sieht sich mit sechs verlorenen Jahren ohne realen Wachstumsschub konfrontiert.
Schwierige Ausgangslage für die Schweiz
Das bedeutet auch für die Schweiz eine schwierige Ausgangslage: Denn Deutschland ist nicht nur die mit Abstand grösste Volkswirtschaft Europas, sondern auch unser wichtigster (vor den USA!) Import-Einzelhandelspartner und unser drittwichtigster (nach den USA und China) Export-Einzelmarkt.
Im Jahr 2024 gingen wertmässig 12 Prozent aller Ausfuhren in die Bundesrepublik, während über 18 Prozent der Einfuhren von dort stammten. Und genau dieser wichtige Handelspartner steckt in einer anhaltenden strukturellen Schwächephase, deren Ende sich auch mit der neuen Regierung nicht unmittelbar abzeichnet.
Neue Stolpersteine
Vielmehr sind neue Stolperstein hinzugekommen: Seit August belasten US-Zölle von 15 Prozent auf EU-Importe gerade jene Bereiche, die Deutschland traditionell stark machen – Maschinenbau, Automobilbau, Elektrotechnik. Damit verschärft sich eine Entwicklung, die in der Schweiz genau beobachtet werden muss.
Denn auch für Schweizer Firmen, deren Wertschöpfungsketten tief mit der deutschen Industrie verflochten sind, gelten damit zwei schwierige Rahmenbedingungen gleichzeitig: Der wichtigste EU-Partner steckt in der Krise – und die USA, neben der EU ein Schlüsselmarkt, schotten sich durch höhere Zölle ab.
Zweifelhafte Krisentherapie
Die Schweiz selbst steht zwar sichtbar stabiler da: Die Zahl der Konkurse steigt hier moderater, das Wachstum ist zwar abgeflacht, aber die Rezession konnte bislang vermieden werden und zeichnet sich ohne weitere Eskalation im Zollstreit auch nicht ab.
Dennoch ist klar: Die internationale Konjunkturabkühlung hinterlässt Spuren. Exportunternehmen, insbesondere im Maschinen- und Präzisionsgewerbe, sehen sich zugleich mit schwächerer Nachfrage aus Deutschland und höheren Markteintrittsbarrieren in den USA konfrontiert. Der Franken, als sicherer Hafen gefragt, verteuert zudem die Produkte zusätzlich.
Zweifelhafte Krisentherapie
Ein Blick nach Berlin zeigt, dass die deutsche Politik auf gigantische staatliche Ausgabenprogramme setzt – finanziert durch Rekordschulden. Doch die ökonomische Logik dieser «Krisentherapie» ist zweifelhaft.
Wenn jeder Euro zusätzlicher Ausgaben die Wirtschaftsleistung nur um 40 Cent erhöht, wie das Ifo-Institut schätzt, droht irgendwann nicht Stärkung, sondern Zersetzung der widerstandsfähigen Substanz.
Belastungsprobe für Schweizer Zulieferer
Die Schweiz verfolgt traditionell eine andere Linie: Mit Schuldenbremse und Zurückhaltung in der Fiskalpolitik bleibt der finanzielle Spielraum zwar enger, aber die Haushaltsdisziplin wirkt langfristig stabilisierend auf den Standort.
Für unser Land bedeutet das kurzfristig eine Phase hoher Unsicherheit. Die deutsche Nachfrage bricht nicht von heute auf morgen weg, aber der Trend zeigt nach unten – und für Schweizer Zulieferer und Exporteure wird die Kombination aus deutschem Krisenmodus, US-Protektionismus und starkem Franken zur Belastungsprobe.
Diversifikation wird entscheidend
Entscheidend wird sein, wie schnell sich die deutsche Industrie in ihrer Kernkompetenz – hochwertige Exportgüter – wieder behaupten kann. Gelingt dies nicht, steht der Schweiz eine Phase bevor, in der sie ihre Absatzmärkte diversifizieren und ihre Innovationskraft noch stärker in nicht-europäischen Regionen zur Geltung bringen muss.
Die unmittelbare Perspektive ist somit wenig tröstlich: Deutschland schwächelt, die USA pochen auf Protektion, und die Schweiz muss sich mit dem Rückenwind einer soliden Finanzpolitik selbst Resilienz verschaffen.
Schweizer Tugenden
Schwieriger könnte das Umfeld für den Schweizer Aussenhandel kaum sein. Schwierig, aber nicht unmöglich.
Womit wir wieder bei den bewährten Schweizer Tugenden sind: Machen wir das Beste daraus.
Santosh Brivio ist seit 2020 der Senior Economist der Migros Bank. Zuvor war er sieben Jahre für die Raiffeisen Gruppe tätig, zuletzt als Leiter Advisory Services und Verantwortlicher für das «Thematic Investment». Seinen Einstieg in die Finanzbranche hatte er 2009 bei der Privatbank Wegelin & Co. Er hält ein Lizenziat (Master) und ein CAS der Universität Zürich und ist Chartered Alternative Investment Analyst.