Immer mehr Leute liebäugeln mit Arbeitsmodellen im Ausland. Deshalb und wegen des Fachkräftemangels muss auch die Finanzbranche ihre traditionellen Strukturen überdenken, rät die Professorin Isabelle Wildhaber im Interview mit finews.ch.


Frau Wildhaber, Sie beschäftigen sich intensiv mit neuen Arbeitsformen. Was sind die neusten Trends?

Die Trends des neuen Arbeitens – neudeutsch New Work genannt – umfassen verschiedene Formen des flexiblen Arbeitens. Neben der zeitlichen wird die örtliche Flexibilisierung immer gefragter.

Gehen diese Arbeitsformen über das mittlerweile typische Homeoffice hinaus?

Genau. Neuerdings ist nicht nur das Homeoffice innerhalb des eigenen Landes ein Thema, sondern vermehrt auch das mobil-flexible Arbeiten im Ausland. Diese Arbeitsweise ist sehr begehrt. Von uns interviewte Arbeitnehmende haben betont, dass sie lieber auf einen Bonus als auf mobil-flexibles Arbeiten im Ausland verzichten würden.

Was unterscheidet die digitalen Nomaden von Angestellten, die zeitweise im Ausland für ihr Unternehmen arbeiten wollen?

Digitale Nomaden arbeiten projektbezogen und meist selbständig. Sie sind im Schnitt 32 Jahre alt. 80 Prozent der digitalen Nomaden bleiben zwischen drei und neun Monaten an einem Ort, 66 Prozent zwischen drei und sechs Monate.

«Arbeit bleibt Arbeit – selbst wenn Palmen dabei Schatten spenden»

Zu unterscheiden davon sind Angestellte, die beispielsweise in der Schweiz angestellt sind und nur zeitweise aus dem Ausland für ihr Unternehmen arbeiten wollen. Oft ist dabei die Rede von sogenannten «Workations», einer Wortschöpfung aus Work und Vacation. Ich ziehe allerdings den Begriff «Arbeiten aus dem Ausland» oder «Remote Work from Abroad» vor. Arbeit bleibt Arbeit – selbst wenn Palmen dabei Schatten spenden.

Welche Menschen wünschen sich denn, eine solche Workation?

Die Bedürfnisse und Wünsche für temporäres Arbeiten im Ausland sind vielschichtiger, als man auf den ersten Blick meinen könnte. Natürlich gibt es die Jungen aus der Generation Z, die vielleicht in einer anderen Zeitzone morgens am Strand surfen wollen und dafür nachmittags und abends für den Hauptsitz einer Bank im Einsatz sind.

Es gibt aber überraschend viele Angestellte, die einen Auslandeinsatz wünschen, weil sie in der Nähe von pflegebedürftigen Angehörigen sein möchten oder weil sie andere familiäre Gründe haben.

Das sind doch zunächst einmal persönliche Bedürfnisse, die den Arbeitgeber nicht zu interessieren brauchen.

Das ist schon richtig. Aber Banken und andere Unternehmen suchen in gewissen Bereichen händeringend um Fachkräfte. Wenn diese Arbeitgeber keine flexible Arbeitsmodelle anbieten, wird es ihnen in einer Zeit des zunehmenden Fachkräftemangels schwerer fallen, gute Leute zu rekrutieren und an sich zu binden. Ohne flexible Arbeitsmodelle ist man schlicht weniger attraktiv.

Trotzdem ist das Arbeiten aus dem Ausland in der Schweizer Finanzbranche noch kaum verbreitet. Woran liegt das?

Viele Arbeitgeber sind zwar gegenüber einem «Remote Work from Abroad» aufgeschlossen. Sie scheuen aber häufig noch die Mühen und Kosten und vor allem die Risiken, wenn diese Möglichkeit flächendeckend angeboten wird.

«Das möchte natürlich jedes Unternehmen unbedingt vermeiden»

In der Finanzbranche kommen sicherlich auch noch berechtigte Bedenken des Datenschutzes ins Spiel. Die Nutzung persönlicher Kundendaten im Ausland ist heikel.

Was sind denn die wichtigsten Hindernisse für temporäres Arbeiten im Ausland?

Zunächst gibt es verschiedene rechtliche Risiken. Ein grosses Risiko besteht darin, dass Arbeitnehmende im Ausland eine Betriebsstätte errichten könnten und dann ihr Arbeitgeber im Ausland steuerpflichtig wird. Das möchte natürlich jedes Unternehmen unbedingt vermeiden. Ein weiteres wichtiges Risiko ist das Sozialversicherungsrecht: Wenn Arbeitnehmer aus dem Ausland arbeiten, können sie den ausländischen Sozialversicherungssystemen unterliegen.

Gibt es weitere rechtliche Fragestellungen?

Es gibt viele weitere Risiken. Arbeitnehmende müssen unter Umständen eine Einreise- und Aufenthaltsgenehmigung für das Land beantragen, in dem sie arbeiten möchten. Es stellt sich also die Frage, welche Art von Visum erforderlich ist, um im Ausland zu arbeiten.

«Es gibt auch noch Geschäftsrisiken»

Wenn Arbeitnehmende ausserhalb des Landes arbeiten, in dem sie beschäftigt sind, können sie ausserdem der lokalen Besteuerung im Ausland unterliegen. Und schliesslich sind die Arbeitsgesetze vor Ort im Ausland zu beachten. Der Ort der Arbeit ist ein Schlüsselfaktor für Arbeitnehmerschutzbestimmungen wie Arbeitszeiten oder Feiertage.

Sind neben den Rechtsfragen noch weitere Fallstricke zu beachten?

Ja, es gibt auch noch Geschäftsrisiken. Ein Unternehmen sollte für sich definieren, wer aus der Belegschaft ein solches Arbeiten im Ausland beantragen darf, wie die Arbeitnehmenden im Ausland erreichbar sein müssen, welche Datensicherheit vorliegen muss, welche Zeitzonenverschiebung man zulassen will, oder welche Konnektivität verlangt wird.

Da kommt einiges zusammen. Macht das die Sache nicht kompliziert?

Ja, es läuft darauf hinaus, dass man Einzelfälle abklären muss – hinsichtlich Aufgaben des einzelnen Arbeitnehmenden, Dauer des Trips und Destination. Mittlerweile gibt es aber sogar Dienstleistungen wie das HR Tool von Vamoz.

«Auch im EU-Ausland müssen die rechtlichen und geschäftlichen Risiken einzeln abgeklärt werden»

Dieses Startup, das seine Wurzeln an der Universität St.Gallen hat, stellt Personalverantwortlichen einen einfachen Drei-Schritte-Prozess zur Verfügung, damit Unternehmen einen nahtlosen Prozess für das Onboarding, die Genehmigung und die Verwaltung von reisefreudigen Mitarbeitern anbieten können.

Es gibt also praktikable Lösungen, wenn ein Unternehmen diese neue Arbeitsform ernsthaft in Betracht zieht.

Das kann man so sagen. Das Kosten-Nutzen-Verhältnis wird sogar noch besser, wenn man berücksichtigt, dass mit solchen Arbeitsmodellen viele junge Talente angezogen und verdiente Mitarbeitende im Unternehmen gehalten werden können.

Banken und andere Unternehmen aus dem EU-Raum benötigen keine gesonderten Aufenthaltstitel oder eine Arbeitserlaubnis, wenn sie Arbeiten in einem andern EU-Staat in beschränktem Umfang erlauben. Hat die Schweiz also mit einem Standortnachteil zu kämpfen?

Das sehe ich nicht so. Auch im EU-Ausland müssen bei «Remote Work from Abroad» die rechtlichen und geschäftlichen Risiken einzeln abgeklärt werden. Ausserdem stellen sich für Banken und andere Unternehmen in der EU ebenfalls Fragen zu Sozialversicherungen, Steuern oder lokalen Arbeitsgesetzen.

Es geht überall – in der EU und der Schweiz – darum zu erkennen, welche Chancen sich mit all diesen flexiblen, orts- und zeitunabhängigen Arbeitsweisen für Arbeitgeber und Arbeitnehmer eröffnen.


Isabelle Wildhaber ist ordentliche Professorin für Privat- und Wirtschaftsrecht an der Universität St. Gallen und geschäftsführende Direktorin des Forschungsinstituts für Arbeit und Arbeitswelten (FAA-HSG).