Beat Wittmann: «Aufwachen, Schweiz – und zwar jetzt!»

Will die Schweiz wohlhabend und souverän bleiben, muss sie ihre Mythen ablegen, die Selbstzufriedenheit abstreifen – und handeln, mit der Dringlichkeit einer Nation, die weiss, dass der nächste Schock bereits unterwegs ist, schreibt Beat Wittmann in seinem Gastbeitrag für finews.ch.

Wir sind eine wohlhabende, talentierte, global vernetzte Nation – und tun dennoch so, als seien Neutralität und vergangene Erfolge ein Schutzschild gegen eine Welt, die sich längst weitergedreht hat. Doch das sind sie nicht. Der Untergang der Credit Suisse wäre ein Weckruf gewesen. Doch wir haben die Schlummertaste gedrückt.

Mit den jüngsten Ereignissen rund um die US-Zölle ist höchste Zeit, nun endlich zielstrebig und selbstwusst zu handeln. Ansatzpunkte gibt es genügend.

1. Eine nationale Strategie für nationale Herausforderungen

Der Schweiz fehlt eine kohärente Strategie, um ihre Wettbewerbsfähigkeit in einer Welt zu sichern, die von feindlicher Geopolitik und rasantem Wandel geprägt ist. Wir müssen die Silos zwischen Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft aufbrechen.

Die USA glänzen, weil sie Finanzkraft, Technologie und Unternehmergeist verbinden. Chinas industriepolitischer Masterplan 2015–2025 zeigt, was Vision und konsequente Umsetzung erreichen können.

Die Schweiz muss ihre Stärken – Regierung, Forschung und Industrie – zu einer einheitlichen, koordinierten Anstrengung bündeln, um langfristigen Wohlstand, Souveränität und globale Relevanz zu sichern.

2. Unberechenbare Beziehungen zu den USA: Die neue Normalität

Wenn Donald Trumps Umgang mit der Schweiz hart erscheint, sollte man bedenken, wie seine Regierung Kanada – den engsten Verbündeten – behandelte. Trump respektiert einzig China als ebenbürtigen Partner. Unter seiner Führung ist die US-Politik transaktional; Deals sind keine Verträge.

Der Reichtum und die Neutralität der Schweiz machen sie zu einem leichten Ziel. Wir müssen in eine konsequente, strategische Zusammenarbeit nicht nur mit den USA investieren, sondern – entscheidend – auch mit der EU, unserem grössten und verlässlichsten Partner.

3. Schweizer Realpolitik statt Schweizer Exzeptionalismus

Die Schweiz ist klein, erfolgreich und global exponiert. Sie muss ihre Rolle als Politiknehmerin unter den Supermächten – USA, EU und China – akzeptieren. Der Mythos des Schweizer Exzeptionalismus ist überholt.

Nationalisten und Isolationisten bieten veraltete Lösungen. Eine pragmatische Ausrichtung an geopolitischen Realitäten muss unsere Aussenpolitik bestimmen.

4. Lernen aus Erfolg – und aus Scheitern

Singapur beweist, was Disziplin, Einheit und Umsetzungskraft erreichen können. Das gescheiterte britische Post-Brexit-Experiment eines «Singapore-on-Thames» zeigt, was passiert, wenn Parolen an die Stelle von Strategie treten.

Die Schweiz muss sich auf Wachstum konzentrieren, das auf Realismus, internationaler Integration und wettbewerblicher Exzellenz beruht – nicht auf Illusionen einer abgeschotteten Einzigartigkeit.

5. Exportwettbewerbsfähigkeit stärken

Mit einer Industrie von Weltrang und führenden Forschungsinstitutionen wie ETH und EPFL verfügt die Schweiz über die Mittel, um ihre Position als erstklassiger Standort für multinationale Konzerne und KMU zurückzugewinnen.

Die Regierung muss strukturelle Reformen anführen, um die unternehmerische Wettbewerbsfähigkeit wiederherzustellen und gleichzeitig das Prestige der Marke Schweiz zu bewahren – aufgebaut auf Vertrauenswürdigkeit und gemeinsamen Werten mit demokratischen, regelbasierten Partnern wie der EU.

6. Inländisches Wachstum freisetzen

Die Schweizer Wirtschaft bleibt unter ihren Möglichkeiten – gebremst durch Überprotektion und Partikularinteressen. Reformen müssen Subventionen kürzen, Kartelle aufbrechen, Märkte deregulieren und Steuern senken.

Wachstum erfordert Investitionen in digitale Infrastruktur, Wissenschaft, Verkehr, Energie und Sicherheit. Produktivität entsteht nicht durch den Schutz von Rent-Seeking, sondern durch die Öffnung der Wirtschaft für Wettbewerb und Innovation.

7. Verteidigung und Sicherheit wiederaufbauen

Die nationale Sicherheit ist eine verfassungsmässige Pflicht, doch die Schweizer Verteidigung befindet sich in einem Zustand der Vernachlässigung. Ein mutiger Schritt: 5 Prozent des BIP für Sicherheit bereitstellen – 3,5 Prozent für das Militär, 1,5 Prozent für Infrastruktur – finanziert durch eidgenössische Verteidigungsanleihen.

Kontraproduktive Exportbeschränkungen für Rüstungs- und Dual-Use-Güter müssen fallen. Neutralität ohne glaubwürdige Verteidigung ist ein leeres Versprechen.

8. Investitionen für Wachstum: Infrastruktur und Technologie

Die Schuldenbremse, einst klug, hat sich zu einem Dogma verfestigt, das Investitionen erstickt. Wie Deutschland muss die Schweiz ihre fiskalischen Regeln an veränderte Realitäten anpassen.

Investitionen in Verteidigung, Infrastruktur und Technologie haben hohe wirtschaftliche Multiplikatoren und senden ein klares Signal an EU, USA und NATO: Die Schweiz ist bereit für gemeinsame Chancen und gemeinsame Verantwortung.

9. Auf US-Protektionismus vorbereiten

Die Risiken sind klar: Trump könnte die Schweiz als Währungsmanipulator brandmarken oder Zölle auf Pharma verhängen. Diese Bedrohungen sind politischer, wirtschaftlicher und finanzieller Natur.

Wir müssen uns jetzt vorbereiten – Handels­partner diversifizieren, Wettbewerbsfähigkeit stärken und Resilienz ausbauen – damit die Schweiz dem Druck standhalten kann, wenn er kommt.

10. Die Zeit zu handeln ist jetzt

Die Schweiz verfügt über Talent, Ressourcen und Glaubwürdigkeit, um auch in einer härteren Welt zu bestehen. Was fehlt, ist eine einheitliche Strategie, politischer Wille und der Mut, vom bequemen Reagieren zum entschlossenen Handeln überzugehen.

Die Zeit zu handeln ist jetzt – bevor der nächste Schock eintritt.


Beat Wittmann ist Mitgründer, Partner und Verwaltungsratspräsident von Porta Advisors. Das in Zürich ansässige Unternehmen wurde 2015 als unabhängige Corporate-Finance-Beratung mit internationaler Ausrichtung gegründet und bietet Beratungsdienstleistungen für Finanzinstitute, Family Offices und Unternehmen an. Zudem ist er stellvertretender Verwaltungsratspräsident von Solutio, einer auf Privatmärkte spezialisierten Investmentgesellschaft mit Sitz in München, Deutschland.

Den Grossteil seiner früheren Bankkarriere absolvierte er bei UBS Asset Management in Zürich, bevor er als CIO und CEO Investment Products bei Clariden Leu (einem Unternehmen der Credit Suisse) tätig war. Anschliessend übernahm er die Funktion des CEO Investment Products bei der Bank Julius Bär und war Mitglied der Geschäftsleitung. Er hat an der Universität Basel (Schweiz) studiert und einen Master of Science in Economics erworben.