Um Verwaltungsrat von Vontobel zu werden, hat Andreas Utermann Tausende von Kilometern zurückgelegt und auch seine Karriere als Hausmann aufgegeben. In seiner neuen Rolle hofft er, die Musse wieder zu finden, die ihm zuvor als CEO abhanden gekommen war. Dem nächsten Jahr begegnet er mit einigem Respekt, wie er im Interview mit finews.ch verrät.


Herr Utermann, wie lange kennen Sie Vontobel schon?

Seit Anfang meiner Karriere. Den Namen kennt man, wenn man in der Finanzbranche tätig ist. In der Vergangenheit bin ich auch bei der einen oder anderen Konferenz Zeno Staub über den Weg gelaufen.

Und als potenzielle Arbeitgeberin?

Seit April 2020.

Ein Jahr brauchte der Verwaltungsrat, um sich für Sie zu entscheiden?

Der Verwaltungsrat hat sich auch unter Einbindung der Familie Vontobel mit einer Personalberatung gebührend Zeit genommen, um alle möglichen Kandidaten anzugucken. Das Ganze lief ganz professionell und war auch nicht trivial in der Pandemie.

Wie haben Sie das gemacht?

Es war schwierig, mit den unterschiedlichen Quarantäne- und Reisbestimmungen. Ich bin per Auto 1'300 Kilometer von England nach Frankreich gefahren. Denn in Frankreich durfte man sich, wenn man geimpft war, frei bewegen. Also war ich in meinem Haus und habe zwei Wochen lang im Garten gearbeitet und so meine Quarantänezeit abgesessen. Danach bin ich 1'200 Kilometer von Frankreich in die Schweiz gefahren. Und das Ganze dann ein paar Tage später wieder retour. Ganz regelkonform und nicht geschummelt.

Was gab den Ausschlag, Vontobel als Arbeitgeberin in Erwägung zu ziehen?

Vier Faktoren. Zunächst einmal, die Vorstellung, bei einem Familienunternehmen zu arbeiten. Denn ich war immer der Meinung, dass Investmentfirmen in Familienhand besser geführt werden und so auch erfolgreicher sind als andere.

«Meine Eltern wollten nur in die Schweiz, nicht nach Österreich, Frankreich oder Italien»

Zweitens spielte ich schon mehrere Jahre mit dem Gedanken, einen Standort für unsere Familie in der Schweiz zu haben. Ich bin von klein auf jedes Jahr mit den Eltern in die Skiferien hierhergefahren. Meine Eltern wollten nur in die Schweiz, nicht nach Österreich, Frankreich oder Italien. Das war einfach so. Mit der Zeit sind hierzulande auch Freundschaften entstanden.

Drittens stehe ich beruflich für aktives Anlegen ein, und Vontobel ist als Investmenthaus die beste Adresse dafür.

Der vierte Aspekt ist persönlicher Natur. Die Arbeit als CEO ist zwar super spannend. Doch wenn man ehrlich ist, bleibt einem dabei nicht mehr viel Zeit, um sich strategischen Themen zu widmen. Man ist getrieben von der operativen Arbeit. Insofern habe ich mir von einer Rolle als Verwaltungsratspräsident (VRP) mehr Zeit zum Nachdenken über strategische Fragen erhofft.

Ging die Rechnung bisher auf?

Das lässt sich noch nicht sagen. Ich habe in diesem Jahr fast alle Schweizer sowie internationalen Standorte und zahlreiche Kundinnen und Kunden besucht. Ich habe viele Gespräche mit unseren Mitarbeitenden und auch mit Aktionären geführt. Hierzu zählt natürlich in erster Linie die Familie.

Wie hat sich Ihre Sicht auf die Schweiz verändert?

Ganz fremd war mir die Schweiz ja nicht. Doch wofür ich mittlerweile ein besseres Verständnis habe, ist, dass die Schweiz wirklich basisdemokratisch ist. Das hat einen starken kulturellen Einfluss auf das Verhalten der Menschen, auf ihr Selbstverständnis. Ich glaube, das ist sehr positiv für das Selbstwertgefühl der Menschen. Sie fühlen sich alle gleich behandelt, egal ob sie nun VRP sind oder Verkäufer. Das war mir so nicht bewusst.

«Allerdings war dies auch ein Krieg mit Ansage»

Wenn man von aussen auf die «reiche» Schweiz guckt, könnte man meinen, dass es ein sozial sehr ungleiches Land ist. Aber die sozialen Unterschiede sind viel geringer als in anderen Ländern, wie auch die Zahlen zeigen.

Die Schweiz nimmt für sich oft eine Sonderrolle in Anspruch und steht der EU abseits. Wie nehmen Sie diese Haltung wahr?

Die Geschichte Europas seit dem Zweiten Weltkrieg ist eine des ständigen Neufindens. Und gerade jetzt mit dem Krieg in der Ukraine, stellen die Europäer fest, dass es abseits aller Meinungsverschiedenheiten doch so etwas wie eine Wertegemeinschaft gibt, die es zu verteidigen gilt. Zu dieser Wertegemeinschaft gehört auf jeden Fall auch die Schweiz dazu.

Die grossen Veränderungen, die jetzt stattfinden und sich sicherlich noch über 10 bis 15 Jahre hinziehen dürften, werden die Politik in Europa massgeblich bestimmen und dazu führen, dass die EU und Länder wie Grossbritannien sowie die Schweiz ein neues Verhältnis zueinander finden und sich auf ihre gemeinsamen Werte besinnen. Das sieht man bereits in der Sanktionspolitik.

Was haben Sie gedacht, als Sie im vergangenen Februar vernommen haben, dass die russische Armee in die Ukraine einmarschiert?

Ich fand es zunächst einmal ungeheuerlich, dass so nah ein dermassen schrecklicher Krieg ausbricht. Allerdings war dies auch ein Krieg mit Ansage. Insofern war ich nicht total überrascht.

Wie meinen Sie das?

Die öffentlichen Signale des britischen und des amerikanischen Geheimdienstes waren zuletzt so deutlich, dass man von einer Invasion ausgehen musste. Aber offenbar waren viele Menschen nicht in der Realität verhaftet oder wollten es einfach nicht glauben, inklusive einiger Regierungschefs – bis kurz vor Kriegsausbruch.

Haben wir 2022 eine Zeitenwende erlebt?

Ich denke schon. Die erwähnte Neubesinnung ist nicht nur der (De-)Globalisierung gezollt, sondern vor allem dem Krieg in der Ukraine. Ich habe Wladimir Putins Münchner-Rede vor einigen Jahren von Anfang bis Ende gelesen.

«Mich wundert es oft, dass die Finanzmärkte ein so kurzes Gedächtnis haben»

Ich meine, eine klarere Ansage gibt es nicht, wonach Russland sich das Recht ausbedingt, die russische Bevölkerung in den Postsowjetischen Staaten zurück ins russische Reich zu holen. Das ist Putins tiefste Überzeugung. Das ist keine Provokation.

In den vergangenen zwölf Monaten kam es auch zu einer Inflation wie wir sie seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt hatten. Nun droht in vielen Teilen der Welt eine Rezession. Was raten Sie nun?

Die Inflation war ebenfalls eine Entwicklung mit Ansage. Ich habe bereits im vergangenen Jahr in der «Financial Times» darauf hingewiesen, dass die Teuerung zum Thema wird. Mich wundert es oft, dass die Finanzmärkte ein so kurzes Gedächtnis haben und die Lehren aus der Geschichte nur sehr langsam ziehen.

Das müssen Sie uns genauer erklären.

Die letzten dreissig Jahre waren geprägt von einer Disinflation, eingeleitet in den 1970er-Jahren durch die Zinserhöhungen des damaligen US-Notenbankchefs Paul Volcker, so dass es zwischen 1979 und 1981 zu einer Rezession kam, welche die Teuerungsspirale beendete. Parallel dazu befeuerten die aufkommende Globalisierung, die wachsende Bedeutung Chinas sowie der technologische Fortschritt die wirtschaftliche Entwicklung.

Was folgte dann?

So richtig «besiegt» war die Inflation erst Mitte der 1990er-Jahre. Damals begannen die Zinsen am langen Ende zu fallen, und die Finanzmärkte haben ihre Erwartungen daran angepasst. Insofern ist es logisch, dass uns die Inflation noch länger beschäftigen wird, weil sie noch gar nicht im Markt eingepreist ist. Es dominieren nach wie vor die Erwartungen aus dreissig Jahren Disinflation. Die Anpassungen werden einige Zeit in Anspruch nehmen, so dass uns noch eine Weile unsichere Zeiten bevorstehen.

Wie legen Sie persönlich Ihr Geld an?

Ich halte sehr viele Einzelaktien in meinem Portfolio. Zudem habe ich vor einem Jahr angefangen, Vontobel-Produkte zu kaufen, und zwar Global-Fixed-Income-Mandate. Ich hatte zuvor null davon. Die haben zwar auch an Wert eingebüsst. Doch ich habe nachgekauft. Darüber hinaus bin ich ein signifikanter Angel-Investor.

«Ich spekuliere nicht»

Ich habe ungefähr 40 Investments im Startup-Bereich. Von der Historie her habe ich auch einige Immobilien in meinem Portfolio. Insgesamt halte ich meine Investments langfristig. Nur bei Einzelaktien agiere ich, sobald sie 10 oder mehr Prozent fallen. Dann kaufe ich zu.

Was halten Sie von Gold und Krypto?

Das ist ein schwieriges Thema. Ich besitze weder Gold noch Krypto. Habe ich noch nie gehabt. Ich bin da sehr traditionell und will auch keinem zu nahetreten, der eine andere Meinung dazu hat.

Was heisst das konkret?

Ich persönlich glaube an Anlagen, die eine wirtschaftliche Rendite abwerfen, also Dividenden, Mieteinkünfte oder auch Eigentumsrechte. Klar, man kann sein Geld auch für Gold, Krypto oder Kunst ausgeben. Aber für mich ist das etwas anderes. Ich spekuliere nicht gerne. Natürlich kaufe ich gerne Kunst, aber nicht, weil ich mir erhoffe, damit Geld zu verdienen, sondern weil ich ein Gemälde an der Wand schön finde. Das kann ich weder mit Gold noch mit Krypto tun.

Kryptowährungen haben in diesem Jahr massiv enttäuscht. Glauben Sie, dass sie sich als Alternative zum Geld dennoch durchsetzen werden?

Ich spekuliere nicht. Deswegen kann ich diese Frage nicht beantworten.

Wie bringen Sie sich bei Vontobel ein?

Als VRP übernehme ich zunächst einmal meine Kontrollfunktion und hinterfrage die Strategie. Mit meinem Background – ich habe auch in den USA und in Asien gearbeitet – kann ich mich strategisch in die Internationalisierung des Geschäfts von Vontobel einbringen. Ausserdem kann ich meine Kenntnisse und meine Erfahrung im Bereich Privatmarkt-Anlagen einsetzen; ein Bereich, in dem Vontobel ebenfalls signifikant zulegen möchte.

«Heute werden wir als Eltern ständig von unseren Kindern herausgefordert»

Seit sich Vontobel vor drei Jahren von einer Bank in ein Investmenthaus umgewandelt hat, bin ich der erste VRP, der dies von seiner Laufbahn her zum Ausdruck bringt, zumal ich meine ganze Karriere in der Investmentbranche gemacht habe. Wie CEO Zeno Staub komme ich aus dem Anlagegeschäft. Wir sprechen bereits dieselbe Sprache und brauchen nicht noch zwanzig Jahre, um uns kennenzulernen. Wir stehen uns auch vom Alter her recht nahe.

Wenn man Sie so sprechen hört, gewinnt man den Eindruck, dass das klassische Wine & Dine mit den Kundinnen und Kunden im Private Banking der Vergangenheit angehört. Richtig?

Absolut. Ich will nicht ausschliessen, dass einige Kundinnen und Kunden es immer noch schätzen, mit ihrem Berater oder ihrer Beraterin essen zu gehen. Aber wir spüren, dass auf individueller Basis das Thema Sinnhaftigkeit sowie die damit verbundene Nachhaltigkeit einen neuen Stellenwert erhalten haben, was früher nicht der Fall war. Die Leute haben ihre persönliche Moralität geändert, egal wie die öffentliche Diskussion verläuft.

Wie erklären Sie sich diesen Wandel?

Die Pandemie hat ihn sicherlich beschleunigt. Doch er bahnte sich schon vorher an. Das hat sehr viel mit dem Generationenwechsel zu tun. Die Kinder haben heute eine andere Einstellung, sie suchen selbst nach mehr Sinnhaftigkeit im Leben oder «purpose» wie es auf Neudeutsch heisst. Früher gab es eine Ansage der Eltern, und das war’s dann. Heute werden wir als Eltern ständig von unseren Kindern herausgefordert.

Kein Wunder, Sie haben ja zweieinhalb Jahre als Hausmann gearbeitet. Warum haben Sie dieses Dasein wieder aufgegeben?

Der Auslöser dafür war, dass meine Frau vor rund zwanzig Jahren nach der Geburt unserer zweiten Tochter keinen Teilzeitjob in der Finanzbranche gefunden hat. Sie hat sich dann als Innendesignerin selbständig gemacht. Das ging lange gut, doch als dann unsere Töchter vor drei Jahren ganz wichtige Schulexamen zu bestehen hatten, war uns klar, dass mit zwei berufstätigen Elternteilen nicht die besten Voraussetzungen gegeben waren. Gleichzeitig wollte ich nach 18 Jahren bei der Allianz etwas anderes machen. Ende 2019 war meine Nachfolge als CEO geregelt.

Wie haben Sie sich als Hausmann organisiert?

Das war insofern schwierig, weil Anfang 2020 die Pandemie ausbrach. Der Plan verlief nicht ganz so, wie ich mir das vorgestellt hatte. In Grossbritannien waren wir schon sehr früh im Lockdown , und meine Frau arbeitete plötzlich auch von zu Hause aus.

«Ich brauchte ein paar Wochen, um wieder auf Touren zu kommen»

In vielen Zoom-Calls habe ich mich um den Schulkram der Töchter gekümmert, hatte aber dennoch sehr viel Zeit für mich. Das war nicht so geplant. Ich sass einfach zu Hause. Ich habe den Weinkeller dekoriert und dem Garten eine neue Struktur verliehen.

Gab es auch eine Entschleunigung?

Ja, auf jeden Fall, physisch habe ich das sogar sehr stark gespürt. Ich wurde langsamer, nachdem ich zuvor immer ein extremer «Tempoarbeiter» gewesen war. Das war wirklich erstaunlich. Die ersten drei, vier Wochen hier im neuen Job bei Vontobel waren denn auch eine enorme Herausforderung. Ich brauchte ein paar Wochen, um wieder auf Touren zu kommen. Es war wie beim Sport. Wenn man nichts tut, verliert man die Übung.

Warum sind Sie nicht Hausmann geblieben?

Ich hätte wahrscheinlich nicht wieder so früh angefangenen in einem Unternehmen zu arbeiten, wenn nicht diese einzigartige Position bei Vontobel an mich herangetragen worden wäre. Da kamen so viele Faktoren zusammen, die für mich passten – so wie ich das eingangs erwähnt habe: die Schweiz, die VRP-Rolle, das aktive Investieren und die Familie in der Schweiz. «Meine Mission» war insofern auch erfüllt, da unsere Töchter ihr Examen bestanden haben.

Welche persönlichen Werte sind Ihnen im Arbeitsalltag wichtig?

Ganz oben steht für mich Integrität. Das ist für mich das absolut oberste Gebot, das haben mir meine Eltern mit auf den Weg gegeben. Dazu gehört auch, sich nicht verbiegen zu lassen, sondern die Wahrheit zu sagen.

«Du bist dafür verantwortlich, ob sie abends glücklich nach Hause gehen»

Ich lege zudem grossen Wert darauf, dass mich die Mitarbeitenden hinterfragen. Ich will keine Ja-Sagerinnen und Ja-Sager um mich herum. Ich denke, dass eine Unternehmung Willens sein muss, kulturell den Status quo zu hinterfragen. Wenn Vorschriften und Regeln tatsächlich keinen Sinn machen, gehören sie abgeschafft.

Und noch etwas ist mir wichtig: Ich möchte bei der Arbeit Spass haben. Das ist für mich der Normalzustand. Ich lache gern, nicht Spass um des Spasses Willen, sondern weil eine solche Haltung Energie ausstrahlt.

Können Sie das noch etwas genauer ausführen?

Vor vielen Jahren hat mir mein Vorgesetzter den wichtigsten Rat gegeben, als er sagte: «Vergiss nie, welch unglaublichen Einfluss Du als Chef auf Deine Mitarbeitenden hast. Du bist dafür verantwortlich, ob sie abends glücklich nach Hause gehen und dort in der Lage sind, diesen Impact im Familienleben auszuleben, oder ob sie frustriert nach Hause gehen und schlechte Gefühle auf die Familie übertragen.» Das meine ich mit Spass haben an der Arbeit – besonders als Chef oder VRP.


Andreas Utermann ist seit April 2021 Mitglied des Verwaltungsrats von Vontobel und seit April 2022 dessen Präsident. Er wurde in Brüssel geboren und absolvierte zunächst eine Lehre als Bankkaufmann bei der Deutschen Bank. Von 1989 bis 2002 war er in verschiedenen Führungsfunktionen bei Merrill Lynch Investment Management in London tätig. Danach wechselte er zu Allianz Global Investors, wo er unter anderem als Chief Investment Officer (CIO) und später als CEO arbeitete. Ende 2019 verliess er das Unternehmen und wurde Hausmann, bevor er 2021 das Verwaltungsratsmandat bei Vontobel übernahm. Utermann ist deutsch-britischer Doppelbürger.

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