Stefan Kooths: «Bislang wird nur der Wunschzettel immer länger»

Nicht nur Deutschland, sondern auch die anderen EU-Mitglieder haben zu wenig in die Sicherheit investiert. Die Kommission unter Ursula von der Leyen hat deshalb jüngst ein Fünf-Punkte-Programm vorgelegt, mit dem 800 Milliarden Euro zusätzlich für die Verteidigung mobilisiert werden sollen. Wie beurteilen Sie dieses Programm?

Von den anvisierten 800 Milliarden Euro würden 650 Milliarden Euro ohnehin aus den nationalen Budgets kommen. Ich sehe viele Gründe für weniger nationale Sandkästen in der Beschaffung von Rüstungsgütern, aber keine für eine gemeinsame Finanzierung auf EU-Ebene.

«Ich sehe viele Gründe für weniger nationale Sandkästen in der Beschaffung von Rüstungsgütern.»

Die Märkte gehen davon aus, dass die zusätzlichen Investitionen das Wirtschaftswachstum in Deutschland ankurbeln. Der Euro hat zugelegt, die Zinsen sind gestiegen. So könnte die hartnäckige Wachstumsschwäche in Deutschland endlich überwunden werden. Ist das Paket der künftigen Regierung nicht auch aus diesem Grund konjunkturpolitisch zu begrüssen?

Konjunkturell stimulieren solche Fiskalpakete, zumal die deutsche Wirtschaft derzeit unterausgelastet ist. Das kann aber nicht die Begründung sein. Zum einen würden Mehrausgaben in anderen Bereichen ähnliche Effekte haben, und zum anderen ist die Stärkung der Verteidigungsfähigkeit ein Dauerlauf. Verstetigung muss das Ziel sein, nicht Stop-and-go nach Konjunkturlage. Gesamtwirtschaftlich hat Deutschland derzeit etwa 1,5 Prozent konjunkturelle Luft nach oben. Sobald das ausgeschöpft ist, werden die Verdrängungseffekte immer grösser.

Was wäre denn angezeigt?

Das eigentliche Problem der deutschen Wachstumsschwäche liegt in strukturellen Faktoren. Die Standortqualität muss dringend verbessert werden, damit auch die Verteilungsspielräume wieder stärker zunehmen. Ohne weitreichende angebotsseitige Reformen verschärfen sich die ohnehin zunehmenden Verteilungskonflikte mit den zusätzlichen Militär- und Infrastrukturausgaben nur noch mehr. Hierzu ist in der schwarz-roten Sondierung leider nicht allzu viel herausgekommen. Für einen marktwirtschaftlichen Politikwechsel wäre in den Koalitionsgesprächen daher noch viel zu tun.

Mit welchen Auswirkungen auf den Euro, die Inflation, die Zinsen (Rendite der Bundesanleihen) und das Wirtschaftswachstum rechnen Sie in den nächsten Jahren, wenn die Pläne der grossen Koalition umgesetzt werden?

Die Antwort haben die Märkte zu einem Gutteil schon gegeben, indem die Renditen deutlich angezogen haben. Das liegt freilich nicht nur an Deutschland, sondern auch daran, dass insgesamt mit einer laxeren Fiskalpolitik im Euroraum und darüber hinaus gerechnet wird. Und wenn die Europäische Zentralbank ihren Job macht, bleibt die Inflation im Zaum.

«Sollten alle Schuldendämme brechen, wäre das der Anpfiff zum Endspiel um den Euro, das niemand gewinnen kann.»

Bisher hat Deutschland als der finanziell solide Anker in der EU und der EWU gegolten. Wird nun ein Paradigmawechsel eingeleitet und, wenn ja, was wären die Folgen für Deutschland und Europa?

Ich hoffe, dass wir derzeit keinen solchen Paradigmenwechsel erleben. Andernfalls würde die Finanzpolitik mit der Stabilität der Währung spielen. Wer das tut, handelt unverantwortlich. Sollten alle Schuldendämme brechen, wäre das der Anpfiff zum Endspiel um den Euro, das niemand gewinnen kann. Am Ende stünde ökonomisches Chaos. Weil das hoffentlich allen klar ist, sollte uns dieser Paradigmenwechsel erspart bleiben.

Die Ampelkoalition ist am Schluss im Streit um die Schuldenbremse zerbrochen. Nun wird diese noch viel stärker aufgeweicht, als damals diskutiert wurde. Waren die vorgezogenen Bundestagswahlen so betrachtet überhaupt notwendig?

In der Ampel-Koalition waren die letzten Reste von Konsens in der Wirtschafts- und Finanzpolitik aufgebraucht, und die Regierung war dadurch handlungsunfähig. Daher war es richtig, die Wähler entscheiden zu lassen, um die Zeit des Stillstands zu verkürzen. Die Interpretation des Wahlergebnisses, wie sie derzeit von den Akteuren vorgenommen wird, ist allerdings verblüffend.

Die künftige Regierung will die Aufweichung der Schuldenbremse noch vom alten Bundestag beschliessen lassen, weil sie im neuen die dafür nötige Mehrheit kaum erreichen würde. Ist das taktisch klug oder Verrat am Wählerwillen? Wie beurteilen Sie dies politökonomisch?

Institutionen – und damit meine ich formale wie informelle Regeln – leben davon, dass sie auch dann respektiert werden, wenn sie im Einzelfall zu Ergebnissen führen, die einem missfallen. Das bildet den sozialen Kitt in einer komplexen Grossgesellschaft. Das Votum der Wähler – also des Souveräns in einer Demokratie – ist nichts, was man je nach Opportunität mehr oder weniger achten sollte. Egal, wie die formale Gesetzeslage ist: Menschen haben ein Gespür auch für die Fairness, die in ungeschriebenen Regeln liegt. Und dieses Gespür bekommt derzeit ein arges Störgefühl. 

«Notenbanken gut daran, erst gar nicht die Illusion entstehen zu lassen, dass sie dem Staat und seinen Bürgern irgendeine Finanzierungslast vom Hals halten könnten.»

 Seit Monaten hören wir aus den USA, dass die Folgen der Politik von Donald Trump der US-Notenbank Fed die Erfüllung ihres Auftrags erschweren würden. Müssen wir uns nun an den Gedanken gewöhnen, dass dies in Europa nicht viel anders sein wird, weil die Auswirkungen der Fiskalprogramme für die Geldpolitiker ebenfalls nur schwer abzuschätzen sind?

Finanz- und Geldpolitik geraten immer wieder mal aneinander, das liegt in der Natur der Sache. Umso wichtiger ist die Unabhängigkeit der Notenbank, damit sie im Zweifel immer am längeren Hebel sitzt. Denn nur dann kann sie fiskalische Gelüste abperlen lassen. Es dient dem Gemeinwohl, wenn die Produktionsmöglichkeiten nicht überstrapaziert werden. Wenn das nicht über das Zinsniveau am Kapitalmarkt ausreguliert wird, bleibt nur noch das Preisventil. Höhere Inflation bringt nicht nur unnötigen Sand ins marktwirtschaftliche Getriebe, sondern ist zugleich die unfairste Form der Besteuerung. Daher tun Notenbanken gut daran, erst gar nicht die Illusion entstehen zu lassen, dass sie dem Staat und seinen Bürgern irgendeine Finanzierungslast vom Hals halten könnten.