Alessandro Tentori: «Fed hat bisher noch nie in einer solchen Lage gelockert»
Selten war das Knowhow von Chefökonomen und Chefanlagestrategen (Chief Investment Officers, CIO) in der Finanzindustrie so gefragt wie heute. Angesichts der grossen Unsicherheiten und vieler Widersprüche (beispielsweise Rekordwerte an den Aktienbörsen und zugleich Höchstwerte für Gold und Bitcoin, die doch als Krisen-Alternativen zu traditionellen Anlagen gelten), ist der Bedarf der Anleger an Einordnung und Orientierungshilfen ungebrochen.
Das war auch bei der Präsentation von Alessandro Tentori zu spüren, der vor kurzem in Zürich seine Markteinschätzung kundtat. Tentori ist seit acht Jahren CIO Europe von Axa Investment Managers (Axa IM) und in Mailand stationiert. Er ist aber bereits seit 1999 im Geschäft mit Finanzmarktanalysen und -prognosen tätig, zuerst für die Bank Austria Credit Anstalt, dann für die Hypovereinsbank/Unicredit. Weitere Stationen waren BNP Paribas und Citigroup.
Herr Tentori, Jerome Powell, der Chef der US-Notenbank, hat angedeutet, dass das Fed den Leitzins weiter senken wird. Sie gehen auch deshalb wie die Märkte von mehreren Lockerungsschritten in den nächsten zwölf Monaten aus. Aber Sie scheinen damit nicht ganz glücklich zu sein. Weshalb?
Die Fed hat bisher noch nie in einer vergleichbaren Situation die Zinsen gesenkt. Der Arbeitsmarkt ist recht robust und die Inflation noch nicht ganz gebändigt. Aber meine Aussage bezieht sich auf die monetären Bedingungen für die Wirtschaft insgesamt, also neben den Leitzinsen die ganze Zinskurve, die Risikoaufschläge, die Aktienkurse usw. Die Financial-Conditions-Indizes zeigen, dass die Finanzierungsbedingungen für die US-Wirtschaft bereits locker sind und es eigentlich keinen weiteren Stimulus braucht. Entweder weiss die Fed mehr als die Märkte, oder es handelt sich um einen vorsorglichen Schritt.
Powell steht unter Dauerbeschuss durch Präsident Trump. Könnte es auch sein, dass die Notenbank die Zinsen jetzt lockert, um künftig weniger Angriffsfläche zu bieten?
Das ist durchaus möglich. Die Fed könnte sich sagen, wir senken mal ein bisschen. Wenn die Wirtschaft durch die Politik Trumps tatsächlich stimuliert wird, können wir später immer noch bremsen. Sollte sich die Wirtschaft aber schwach entwickeln, so hätten wir unsere Schuldigkeit getan und könnten nicht mehr als Sündenbock herhalten.
«Die grossen Lager, die Flexibilität der Wirtschaft und das Stehvermögen der US-Konsumenten: Deshalb ist es nicht zum grossen Einbruch gekommen.»
Die USA haben heute so hohe Zölle wie seit der Zwischenkriegszeit nicht mehr. Gemäss Lehrbuch müsste dies zu einem massiven Inflationsschub führen, da die Zölle auf die Konsumenten überwälzt werden, und zu einem Konjunktureinbruch. Weshalb ist davon nichts zu sehen?
Ja, die Performance der US-Wirtschaft ist tatsächlich stark, und auch die Unternehmen sind in einer guten Verfassung. Dass es nicht zu dem von den Prognosen vorausgesagten Inflationsschock gekommen ist, hat mehrere Gründe: Die US-Unternehmen haben grosse Lager angelegt, die Inflation wird dadurch nur verzögert über mehrere Quartale weitergegeben. Zudem erwies sich die Wirtschaft als sehr flexibel – viele Ökonomen waren davon ausgegangen, dass es aufgrund der Zölle zu Produktionsstopps kommen würde, mit gravierenden Auswirkungen auf die Lieferketten. Dann hätten die USA tatsächlich einen Konjunktureinbruch und einen Inflationsschub erlebt. Und nicht zuletzt wird das Stehvermögen der US-Konsumenten immer wieder unterschätzt – wie schon in der Corona-Krise. Die Konsumenten sind oft in der Lage, höhere Preise zu tragen, aufgrund ihrer Ersparnisse und dank dem Vermögenseffekt durch die starken Finanzmärkte.
Trumps Politik richtet sich im Grunde gegen «die wachsenden globalen Ungleichgewichte im Handel und bei den Kapitalflüssen», die auch Zentralbanken und internationale Organisationen in den letzten Jahrzehnten immer wieder angeprangert haben. Gibt es da ein reales Problem?
In einer Studie ist die US-Notenbank jüngst zum Schluss gekommen, dass eine negative Handels- und Haushaltsbilanz, also ein Twin Deficit, nicht immer schlecht sein muss. Die USA haben mit dem Dollar das Monopol auf die globale Leitwährung, und gemäss dem Triffin-Dilemma muss die Handelsbilanz dann negativ sein.
Wie lange kann das noch so weitergehen?
Solange die USA den Investoren glaubwürdig klarmachen können, dass sie das Land mit den grössten Ertragsmöglichkeiten sind, funktioniert’s. Nicht umsonst dominieren heute US-Aktien den Weltaktienindex. Wichtige Faktoren sind hohe Investitionen in Forschung und Entwicklung, wobei heute natürlich die künstliche Intelligenz zentral ist, und die militärische Macht. Solange sich daran nichts ändert, kaufen die Investoren US-Staatsanleihen.
Aber heute wird doch viel von einem Rebalancing der Anlagen in Richtung Europa gesprochen.
Die USA sind aber in der Innovation weiterhin führend, nur China ist ein ernsthafter Konkurrent. Europa ist das Kind, das nie erwachsen werden will. Erst eine wirkliche Banken- und Kapitalmarktunion würde daran etwas ändern, ein Projekt, über das schon seit Jahrzehnten debattiert wird.
«Europa ist das Kind, das nie erwachsen werden will.»
Obschon die US-Notenbank und die Europäische Zentralbank (EZB) den Leitzins weiter senken, sind die langfristigen Anleihenrenditen gestiegen. Was steckt dahinter?
Der Anstieg der langfristigen Renditen ist beträchtlich, aber es handelt sich im Grunde um eine Normalisierung, nachdem die Zentralbanken jahrelang mit massiven Anleihenkäufen ihre Geldpolitik quantitativ gelockert hatten. Realzinsen sollten nicht dauerhaft negativ notieren, nun ist die Gegenbewegung gekommen – langfristig tendieren die Märkte eben in Richtung Gleichgewicht. Zentralbanken können nur die Geldmarktzinsen direkt steuern, wenn sie auch das lange Ende der Zinskurve kontrollieren wollen, müssen sie Anleihen erwerben und den Märkten mit Forward Guidance Zusicherungen machen. Nun hat man erkannt, dass das Instrument der quantitativen Lockerung mit Kosten verbunden sein kann, die deutlich höher sind, als seinerzeit angenommen wurde.
Sie haben in Ihrer Präsentation den Markt für hochverzinsliche Anleihen trotz rekordtiefer Risikoaufschläge zu sicheren Anlagen als attraktiv bezeichnet, u.a. weil riskante Finanzierungen heute in den Private Markets gelandet seien. Was meinen Sie damit?
Der High-Yield-Bond-Markt hat sich grundlegend gewandelt, heute liegt die durchschnittliche Bonität der Emittenten deutlich höher als früher. Deshalb hinkt der Vergleich mit dem historischen Risikoaufschlag. Und meine Bemerkung zielte nicht gegen Private Markets, wo Axa IM übrigens auch sehr aktiv ist. Aber Tatsache ist: Früher waren hochriskante Fremdfinanzierungen in Form von Junk Bonds Teil des High-Yield-Marktes. Heute ist dieses Segment weitgehend verschwunden bzw. in den Private-Debt-Bereich abgewandert.
«Der entscheidende Unterschied zu Griechenland: Die Investoren wissen, dass die EZB bei Frankreich im Notfall einspringen wird.»
Aus aktuellem Anlass: Könnte Frankreich für die Eurozone zu einem zweiten Griechenland werden?
Ich will keinen politischen Kommentar dazu abgeben, aber für die Anleihenmärkte gibt es einen entscheidenden Unterschied. Seit Mario Draghis berühmtem «Whatever it takes» 2012 wissen die Investoren, dass die EZB im Notfall einspringen wird, d.h., die Bond Vigilants können ihre Wächterrolle nicht mehr richtig ausüben. Mit der Einführung des Transmissionsschutzinstruments TPI hat die EZB diese Zusage 2022 nochmals bekräftigt. Das hält die Bewegungen bei den Risikoaufschlägen zwischen den Staatsanleihen der Mitglieder der Währungsunion einigermassen im Zaum.