Maria Albericci: «Was bleibt, wenn die Boni wegfallen?»

Der Abschied von den Annehmlichkeiten einer Grossbank fiel ihr nicht leicht. Gleichwohl wagte sie vor 15 Jahren den Sprung in die Selbständigkeit. Seither hat sich ihr Beruf enorm verändert, und die Finanzbranche ist heute eine ganz andere. «Der Schweizer Markt allein ist für 1'500 Vermögensverwalter schlicht zu klein», stellt Maria Albericci im Interview mit finews.ch fest.


Frau Albericci, wie schwer ist es Ihnen gefallen, sich aus der Sicherheit einer Schweizer Grossbank in die Selbständigkeit zu begeben und vor genau 15 Jahren eine unabhängige Vermögensverwaltungsgesellschaft zu gründen?

Finanziell war der Schritt gut vorbereitet, denn ich hatte entsprechend vorgesorgt. Das Businessmodell der unabhängigen Kundenbetreuung über eine Bankenplattform erschien mir seit jeher als vernünftige und zukunftsfähige Lösung. Auch im Privaten hatten wir bereits auf unabhängige Broker gesetzt – etwa bei Versicherungen – also auf ein vertrautes Prinzip.

Schwieriger war der Abschied von den Annehmlichkeiten einer Grossbank: vorteilhafte Hypothekenkonditionen, Bonuszahlungen, grosszügige Pensionskassenpläne, Sabbaticals, der reservierte Parkplatz oder ein professionelles Backoffice. Was bleibt, wenn die Boni wegfallen? Selbst die kleinen Dinge wie der informelle Austausch beim Lunch oder die spontane Kaffeepause im Team fielen plötzlich weg.

«Diese Umstellung ist für viele (Banker) die grösste Hürde auf dem Weg in die Selbständigkeit.»

Die grösste Herausforderung war jedoch der Mentalitätswechsel: weg vom kurzfristigen Denken in Transaktionen und Kommissionen, hin zu einer nachhaltigen, erfolgsabhängigen Vergütung. Diese Umstellung ist für viele nach wie vor die grösste Hürde auf dem Weg in die Selbständigkeit.

Was gab Ihnen das Gefühl, dass Sie es schaffen würden?

Ich war mein ganzes Berufsleben im Kundenkontakt und kannte die Bedürfnisse der Anlegerinnen und Anleger gut. Zudem hatten wir von Beginn an eine fundierte Expertise im Haus.

Wir bauten früh eine regelbasierte Vermögensverwaltung mit hohem Automatisierungsgrad auf, was heute durch Künstliche Intelligenz (KI) weiter verstärkt wird. Auch im Bereich Compliance hatten wir von Anfang an Top-Knowhow an Bord. Unser früher Erfolg hat mich daher nicht überrascht.

Was waren die ersten Lichtblicke und weiteren Meilensteine mit Chefinvest?

Schon in den ersten Monaten zeigte sich, dass viele Kundinnen und Kunden unsere unabhängige Sichtweise schätzten. Ein wichtiger Meilenstein waren die frühe Zulassung durch die Aufsichtsbehörde sowie die erfolgreiche Etablierung unseres regelbasierten Anlageprozesses. Es folgten strategische Partnerschaften mit ausgewählten Banken, der kontinuierliche Ausbau unserer digitalen Infrastruktur und unser konsequenter Fokus auf Transparenz.

«Der Speckgürtel ist deutlich enger geworden.»

Ein weiterer bedeutender Schritt war 2015 die Gründung und Zulassung unserer Tochtergesellschaft in Vaduz, Liechtenstein – heute ein zentraler Bestandteil unseres internationalen Geschäfts und ein Beweis für unsere nachhaltige Wachstumsstrategie.

Gab es auch Momente, als Sie nahe am Aufgeben waren?

«Drum prüfe, wer sich ewig bindet...» In einer Partnerstruktur muss man gerade in schwierigen Zeiten eng zusammenstehen. Das hat nicht mit allen funktioniert. Da fragt man sich schon, ob sich das lohnt. Ich hätte es einfacher gehabt, nur mit meinem Mann Rico Albericci zu starten. Doch mit unserem Partner Patrick Huser hatten wir stets eine sichere Konstante – gemeinsam stellen wir uns jeder Herausforderung.

Heute können wir auf ein gefestigtes und erweitertes Partnerteam zählen, das wesentlich zur Entwicklung der Chefinvest beiträgt. Es ist zu einem tragenden Element unseres Geschäftsmodells geworden – und zugleich ein Ansporn, diesen Kreis weiter zu ergänzen.

Was waren in den vergangenen 15 Jahren für Sie die grössten Veränderungen in der Schweizer Finanz-/Bankbranche?

Der «Speckgürtel» ist deutlich enger geworden. Gleichzeitig fehlt es vielerorts nach wie vor an Innovationsgeist und echter Aufbruchsstimmung. Die relevanten Märkte sind weitgehend verteilt, die Spielräume wirken besetzt.

«Offenbar ist die Liebe zur heimischen Finanzindustrie keine Herzensangelegenheit mehr.»

Doch mit dem bevorstehenden Generationenwechsel und der veränderten geopolitischen Ordnung zeichnet sich ein Wandel ab. Besonders eindrücklich war für mich das Beispiel der Credit Suisse (CS) und UBS: Es hat deutlich gemacht, wie entscheidend eine gestalterisch kompetente Führung auf Stufe Geschäftsleitung und im Besonderen im Verwaltungsrat ist, und dass dies vor allem eine Frage des Know-hows ist, nicht des Geschlechts. Diese Erkenntnis hat mich motiviert, das Verwaltungsratsprogramm VR-CAS an der HSG zu absolvieren.

Und die grössten Überraschungen?

Das CS-Debakel. Die zweitgrösste Bank der Schweiz wurde mit bemerkenswerter juristischer Eleganz vom Markt genommen – ganz ohne, dass jemand so richtig schuld war, zumindest offiziell. Und überraschenderweise hat sich die Bevölkerung dabei nicht etwa empört vor ihre Banken gestellt, sondern eher die Schultern gezuckt. Offenbar ist die Liebe zur heimischen Finanzindustrie keine Herzensangelegenheit mehr.

Wo stehen Sie heute, gemessen an den verwalteten Vermögen, den Mitarbeitenden und der Profitabilität?

Heute zählt nicht nur das Volumen, sondern die Qualität der Assets. Dieser Wandel kommt uns entgegen. Transparenz führt oft zu tieferen Margen, aber darauf setzen wir seit Beginn. Wir sind profitabel, wachsen nachhaltig und werden durch unser Modell täglich wettbewerbsfähiger.

Was muss ein unabhängiger Vermögensverwalter heute bieten, um sich von der Konkurrenz abzuheben?

Ganz klar: Zugang zu europäischen Kundinnen und Kunden. Viele haben diese strategische Weichenstellung zu lange hinausgezögert oder unterschätzt. Für einige dürfte es mittlerweile zu spät sein.

«Der Schweizer Markt allein ist für 1'500 Vermögensverwalter schlicht zu klein.»

Lösungen über Liechtenstein oder Luxemburg sind heute kein «Nice-to-have» mehr, sondern eine Überlebensfrage. Die Grossbanken haben dafür weder Handlungsdruck noch Lobbyinteresse. Der Schweizer Markt allein ist für 1'500 Vermögensverwalter schlicht zu klein.

Wie können Sie Ihren Kundenstamm verjüngen?

Nicht nur die Kunden, auch die Eigentümer- und Führungsstruktur muss in die nächste Generation. Wir betreuen oft ganze Familien – über Generationen und Wohnsitzgrenzen hinweg. Dadurch verjüngt sich unser Kundenstamm automatisch.

Was sind in den nächsten zwei Jahren Ihre Expansions- und Wachstumspläne?

Wir setzen auf organisches Wachstum, prüfen aber auch gezielt Kooperationen oder Fusionen. Im Zentrum steht die Weiterentwicklung unserer digitalen Infrastruktur – insbesondere der Einsatz von KI. Unsere Kundinnen und Kunden erwarten heute eine Performance, die mit der von Banken nicht nur mithalten kann, sondern diese übertrifft – und das bei vergleichbaren Kosten. Gleichzeitig bleibt das persönliche Gespräch unverzichtbar.

«Ein Teilabzug der UBS ins Ausland ist wohl unausweichlich.»

Wir verstehen uns als Übersetzer zwischen künstlicher und natürlicher Intelligenz – technologisch führend, aber mit menschlichem Massstab.

Ist der Schweizer Finanzplatz für die internationale Vermögensverwaltung noch attraktiv genug?

Zu administrativ, zu wenig effizient. Eine Trennung von Bankenplattform und Kundenbetreuung wäre sinnvoll, um Interessenkonflikte aufzulösen. Dazu braucht es aber regulatorische Anpassungen und eine klare Rollentrennung.

Ist die UBS zu gross für die Schweiz? Wäre ein Wegzug der UBS ins Ausland schlimm – für die Schweiz, für die unabhängigen Vermögensverwalter?

Ein Teilabzug ins Ausland ist wohl unausweichlich. Zwar trägt die UBS noch das «S» im Namen, aber nur rund 30 Prozent der Mitarbeitenden sind in der Schweiz tätig – mit abnehmender Tendenz. Das wäre ein Nachteil für unabhängige Vermögensverwalter und auch die Schweiz.


Maria Albericci ist Gründungspartnerin der in Zürich und Vaduz ansässigen Firma Chefinvest und amtiert als deren Verwaltungsratspräsidentin. Sie ist seit mehr als 35 Jahren im Private Banking tätig. Ihre Berufskarriere begann sie mit einer Ausbildung bei der St. Galler Kantonalbank und wechselte später zum Schweizerischen Bankverein (heute UBS); in der Folge arbeitete sie bei der Société Générale und der Credit Suisse, bevor sie zur UBS zurückkehrte, wo sie am Zürcher Paradeplatz vermögende Privatkunden betreute. Im Jahr 2010 machte sie sich selbständig und betreut seither vermögende Kunden aus der Schweiz und Österreich. Im Management der Chefinvest verantwortet sie die Bereiche CFO und HR. Sie ist eidgenössisch diplomierte Finanzplanungsexpertin.