Exodus der Reichen: Steuerexperte über die Abwanderung aus Deutschland

Herr Baumgartner, wie kam es zu Ihrem Bezug zur Schweiz?

Ich bin seit 2003 regelmässig in der Schweiz tätig. Damals arbeitete ich noch für KPMG in Deutschland und später in der Schweiz im Bereich Steueramnestie. Es ging darum, unversteuerte Gelder, Erträge und Vermögenswerte – oft aus Erbschaften oder Schenkungen – nachzuversteuern, zu einem attraktiven Steuersatz und in relativ einfacher Form. Das war zunächst in Luxemburg, dann vor allem in der Schweiz. Dort haben wir viele mittelständische Mandanten betreut. Später, mit der Steuerdatenaffäre und den gekauften Steuer-CDs ab 2008, kam eine regelrechte Welle von Selbstanzeigen. 2005 habe ich mich selbständig gemacht – seitdem bin ich auch dauerhaft in der Schweiz tätig.

Derzeit belebt sich das Geschäft mit vermögenden Kunden aus Deutschland merklich, haben Sie uns kürzlich erzählt.

Früher wollten die Leute vor allem «ruhig schlafen». Das Entdeckungsrisiko war enorm gestiegen, und mit dem automatischen Informationsaustausch war es am Ende praktisch 100 Prozent. Heute geht es um etwas anderes: Wohlhabende Deutsche wollen das Land tatsächlich verlassen. Aus politischen Gründen, wegen Unsicherheit, wegen der Angst vor Steuererhöhungen oder einer Vermögensabgabe. Früher war der Wegzug eher ein Gedankenspiel, heute wird er konkret vorbereitet oder direkt umgesetzt.

Wie viele Mandanten betrifft das?

Das ist aktuell ein zentrales Geschäftsfeld. Wegzüge haben stark zugenommen, ebenso die Strukturierung von Vermögen im Ausland. Häufig werden Startups oder Beteiligungen gleich über liechtensteinische Stiftungen gehalten, um der Wegzugsbesteuerung zu entgehen. Und ja – wir sprechen nicht von Einzelfällen. Die Mandanten wollen vorbereitet sein, falls in Deutschland tatsächlich neue Steuern kommen. Wegzugsbereitschaft herstellen: Das ist derzeit ein Hauptanliegen unserer Klienten.

«Es wird kaum diskutiert, warum die Leute wirklich weggehen.»

Was bedeutet «Wegzugsbereitschaft» konkret?

Kernpunkt ist die Wegzugsbesteuerung. Sobald jemand wesentlich – also mit mehr als einem Prozent – an einer GmbH oder AG beteiligt ist, greift Paragraph 6 des Aussensteuergesetzes. Das heisst: Beim Wegzug werden die stillen Reserven versteuert, obwohl der Gesellschafter die Anteile behält und ihm gar kein Geld zufliesst. Wer zum Beispiel Anteile im Wert von einer Million Euro hält, muss rund 270’000 Euro Steuern zahlen – ohne notwendigerweise die Liquidität dafür zu haben. Das schmerzt. Daher überlegen wir mit den Mandanten: Kann man es sich leisten? Soll man die Beteiligung an die Kinder verschenken, die in Deutschland bleiben? Oder die Beteiligung verkaufen? Wichtig ist auch, künftig keine neuen wesentlichen Beteiligungen direkt zu halten, sondern diese rechtzeitig zu strukturieren. Dann kann der Mandant im Zweifel kurzfristig wegziehen – innerhalb einer Woche, wenn es sein muss.

Kann die Wegzugsbesteuerung auch rückwirkend greifen – also auf Beteiligungen, die schon verkauft sind?

Nein, solche Bestrebungen sind derzeit nicht erkennbar. Aber seit dem 1. Januar 2022 gilt die Wegzugsbesteuerung auch innerhalb der EU. Früher konnte man etwa nach Österreich ziehen, ohne dass sie griff – das ist abgeschafft. Unter bestimmten Bedingungen kann man die Steuer stunden, aber wer dauerhaft wegzieht, muss zahlen. Ich halte das für europarechtlich fragwürdig. Doch niemand zieht weg in der Hoffnung, das Geld in zehn Jahren vielleicht vom EuGH zurückzubekommen. Mandanten wollen Rechtssicherheit – und Ruhe.

Warum sind Liechtenstein-Stiftungen ein Thema?

Man kann bestehende Beteiligungen nur schwer steuerneutral in eine Stiftung einbringen. Aber wenn neue Beteiligungen von Anfang an über Liechtenstein gehalten werden, fällt man gar nicht erst unter das deutsche Aussensteuergesetz. Damit kann man sich die Wegzugsbesteuerung ersparen. Parallel dazu beobachten wir eine starke Tendenz, sich eine «Exit-Option» aufzubauen – sei es in der Schweiz oder auch in Dubai.

«Wir beobachten eine starke Tendenz, sich eine ‹Exit-Option› aufzubauen – sei es in der Schweiz oder auch in Dubai.»

Die Schweiz war lange das klassische Ziel. Gilt das noch immer?

Ja. Der Nimbus ist ungebrochen: Lebensqualität, politische Stabilität, die Nahbarkeit des demokratischen Prozesses. Aber viele Mandanten wollen zusätzlich einen «Plan B». Überraschend oft sind es auch ältere Klienten, die neben der Schweiz auch Dubai ins Auge fassen – für den Fall, dass sich die politische Lage in Europa verschärft.

Gehen auch Mandanten direkt nach Dubai?

Das sehen wir vor allem bei Jüngeren, etwa ab 30. Bei uns sind das keine Influencer, wie man es aus der Boulevardpresse kennt, sondern Unternehmer, die ihr Geschäft von Dubai aus betreiben können oder dort ein neues aufbauen. Ältere Mandanten bevorzugen meist weiterhin die Schweiz, oft auch wegen der kulturellen Nähe.

Und was geschieht mit den Unternehmen in Deutschland?

Es gibt mehrere Muster: Häufig werden sie verkauft – ein klassischer M&A-Fall. Dann folgt fast automatisch die Frage nach dem Wohnsitz. Andere übergeben an die nächste Generation und ziehen selbst weg. Interessant ist: Früher haben die Grosseltern den Wegzug oft blockiert, weil sie bei den Kindern und Enkeln bleiben wollten. Heute gehen viele Familien geschlossen – das war noch bis vor kurzem höchst selten.

«Deutschland müsste den Leistungsträgern wieder ein gutes Gefühl geben.»

Sie sagen, die politische Situation in Deutschland und Europa sei für den Trend mitverantwortlich.

Die ständigen Debatten über Steuererhöhungen, über eine Vermögensabgabe oder eine höhere Erbschaftsteuer verunsichern. Viele wollen nicht länger abwarten, sondern handeln. Sie schaffen Fakten.

Die Schweiz hat ja auch eine Vermögenssteuer. Ist das kein Widerspruch?

Das Gesamtpaket zählt. Die Schweiz bietet Stabilität, verlässliche Politik, niedrigere Einkommensteuersätze. Dass Immobilien oder Mieten teurer sind, kalkulieren die Mandanten mit ein. In der Abwägung gewinnt die Schweiz fast immer.

Welche Länder sind neben der Schweiz und Dubai relevant?

Italien ist für sehr Vermögende interessant, wegen der Pauschalsteuer von 200’000 Euro. Doch viele zweifeln an der Verlässlichkeit. Am Ende fällt die Wahl dann doch meistens auf die Schweiz – italienaffine Mandanten ziehen ins Tessin.

Portugal und Griechenland hört man häufig…

Die spielen für Deutsche eine eher untergeordnete Rolle, wenn nicht bereits persönliche Beziehungen bestehen.

Woher kommen die meisten Wegzügler?

Bayern und Baden-Württemberg, ganz klar. Die Nähe erleichtert den Schritt. Auch kulturell passt es besser. Norddeutsche tun sich schwerer – und, ehrlich gesagt, die Schweizer auch mit ihnen. Aber insgesamt gilt: Es sind vorausschauende Unternehmer, die mit kühlem Kopf und langfristigem Blick entscheiden.

Warum ist dieser Trend für Deutschland problematisch?

Weil das Land damit wertvolle Unternehmer und Fachkräfte verliert. Jährlich verlassen rund 220’000 qualifizierte Arbeitskräfte Deutschland. Hochgerechnet betrifft das Millionen von Menschen, die an Ausbildung und Beschäftigung hängen. Auch Ärzte – ausgebildet mit hohen Kosten – gehen in Scharen in die Schweiz. Diese Abwanderung schwächt Deutschland.

Was müsste Deutschland tun, um gegenzusteuern?

Es braucht mehr Vertrauen in die Zukunft, attraktivere steuerliche Rahmenbedingungen und vor allem die Möglichkeit, qualifizierte Fachkräfte zu gewinnen und zu halten. Auch die Haltung gegenüber Leistung ist ein Thema. Viele Junge setzen auf Work-Life-Balance – für unternehmerischen Erfolg braucht es aber Einsatz, Ausbildung, Knowhow. Deutschland müsste den Leistungsträgern wieder ein gutes Gefühl geben.

Haben Sie den Eindruck, dass die Politik das Problem erkannt hat?

Nein. Es wird kaum diskutiert, warum die Leute wirklich weggehen. Stattdessen richtet sich die Kritik an jene, die gehen. Aber es wäre viel wichtiger, die Ursachen zu analysieren und die Bedingungen so zu gestalten, dass Unternehmer und Leistungsträger bleiben. Denn sie bleiben ja unternehmerisch aktiv – nur eben nicht mehr in Deutschland.


Markus Baumgartner ist Diplom-Finanzwirt (FH) und seit 2003 Steuerberater. Nach Stationen in der bayerischen Finanzverwaltung sowie als Betriebsprüfer und Steuerfahnder wechselte er 2003 zu KPMG in den Bereich Steuerstrafrecht. 2005 gründete er gemeinsam mit einem Partner eine eigene Kanzlei, die heute unter Baumgartner Partner firmiert. An ihren Standorten in Zürich, München, Stuttgart, Nürnberg und Hamburg berät sie vor allem vermögende Privatpersonen und Unternehmer, u.a. im Bereich des Steuerstrafrechts und der internationalen Steuerplanung.