Ronald Van Steenweghen: «Maastricht-Kriterien sind für Markt nicht mehr wichtig»
Staatsanleihen von Industrieländern galten bis vor kurzem als risikolose Anlagen und damit auch als Stabilitätsanker für den Finanzmarkt. Das hat sich in den letzten Monaten gründlich geändert – Stichworte «Liberation Day», Aushebelung der Schuldenbremse in Deutschland und anhaltende Regierungskrise in Frankreich.
Ratingagenturen haben mit Rückstufungen der Bonitätsnoten reagiert. Die USA gelten bei keiner der drei grossen Agenturen mehr als Triple-A-Schuldner und damit als untadelig, Frankreich hat nur noch bei Moody’s ein Doppel-A. Die Ankerfunktion von Staatsanleihen, die auch als «Govies» bezeichnet werden, ist auf dem Prüfstand.
Aktiv im Anleihenmarkt, mit Schwerpunkt «Govies» aus Euroland
Seit bald zwei Jahrzehnten befasst sich Ronald Van Steenweghen mit dem Anleihenmarkt und dem Schwerpunkt Staatsanleihen aus Euroland. Fast eben so lange ist der Belgier für den Asset Manager DPAM (das Kürzel steht für Degroof Petercam Asset Management) tätig. DPAM mit Hauptsitz in Brüssel gehört zur Indosuez-Gruppe und hat auch eine Dependance in Genf. Die Gesellschaft ist auf aktive Anlagen spezialisiert und verwaltet mit über 190 Mitarbeitern ein Vermögen von rund 50 Milliarden Euro.
Van Steenweghen leitet ein Team aus 26 Portfoliomanagern und Bonitätsanalysten und weilte kürzlich im Rahmen eines Präsentationsreigens in Zürich. finews.ch nutzte die Gelegenheit, dem Spezialisten für Staatsanleihen auf den Zahn zu fühlen.
Herr Van Steenweghen, es gab schon einfachere Zeiten, um Investoren Staatsanleihen schmackhaft zu machen, oder?
In der Tat. In den letzten Monaten haben Staatsanleihen aus den USA und Euroland einen vergleichsweise schwachen Gesamtertrag abgeworfen. Deshalb gehen heute viele Investoren in Richtung «Credits», d.h. hochklassige Anleihen v.a. von Unternehmen. Dort ist die Volatilität tiefer als bei Staatsanleihen, und die Renditen sind relativ attraktiv.
Aber die Credit Spreads, die Renditeaufschläge gegenüber Staatsanleihen, sind doch historisch betrachtet tief, das Sicherheitspolster ist damit sehr dünn.
Dafür gibt es aber gute Gründe. Erstens bewegen sich die Fundamentaldaten anders als bei den Staaten in die richtige Richtung. Zweitens schauen die meisten Investoren weniger auf die Spreads, sondern die Gesamtrendite, die immer noch attraktiv erscheint. Ein «Credits»-Portfolio mit ein bisschen High-Yield-Beimischung oder Staatsanleihen mit relativ langer durchschnittlicher Restlaufzeit (Duration) – da ist für viele die Wahl klar. Heute diskutieren wir bei den Staatsanleihen nicht mehr wie früher über den nächsten geldpolitischen Entscheid, sondern über die Schuldentragfähigkeit, die Unabhängigkeit der US-Notenbank und darüber, ob man über Duration überhaupt noch diversifizieren kann. Die Versteilerung der Zinskurve seit dem Liberation Day hat dem Segment der Staatsanleihen zugesetzt.
«Dass die EZB in den vergangenen zehn Jahre viele Rubikons überschritten hat, heisst nicht, dass sie bei Frankreich jede Spread-Ausweitung unterbinden wird.»
Innerhalb des Euro-Segments gilt Frankreich als Sorgenkind. Ist die Aufregung nicht etwas künstlich, weil ja am Ende, wenn es hart auf hart kommt, erfahrungsgemäss die Europäische Zentralbank (EZB) einspringen wird? Sie hat ja vergangenes Jahr mit dem Transmission Protection Instrument (TPI) dafür eigens ein weiteres Werkzeug geschaffen.
Es trifft zu, dass die EZB in den vergangenen zehn Jahre viele Rubikons überschritten hat, die man früher als rote Linien betrachtete. Und das TPI ist Teil des Backstop-Dispositivs, mit dem sie den Zusammenhalt der Währungsunion sicherstellt. Aber das heisst nicht, dass die EZB jede Spread-Ausweitung unterbinden wird. Höhere Spreads für Frankreich erhöhen den Druck auf die Politik, etwas zu unternehmen; die EZB setzt auf Marktdisziplin, auch um Moral Hazard vorzubeugen, solange die Bewegungen im Rahmen bleiben. Zudem ist das Szenario von Anspannungen für die Investoren nicht neu, wir haben es früher auch schon mit Italien erlebt. Interessant ist, dass die eigentlich enge Verbindung zwischen Staat und Bankensystem im Fall von Frankreich aufgeweicht wird. Französische Banken haben auf die Rückstufungen des Ratings kaum reagiert, weil sie finanziell solid dastehen.
Was könnte zu einem Stimmungsumschwung zugunsten der «Govies» führen?
Heute liegen viele negative Nachrichten zu diesem Segment bereits auf dem Tisch, und die Stimmung ist gedrückt, was sich in den Preisen und Renditen spiegelt. Für eine Stabilisierung könnte schon ausreichen, wenn weniger zusätzlich Negatives bekannt werden würde als vom Markt antizipiert. Wenn sich dann noch die Wirtschaft und damit die Inflation abschwächt, könnte die hohe Realverzinsung die Investoren anlocken. Viele halten sich derzeit noch zurück und warten auf ein Kaufsignal. Sollte sich die Realität weniger schlecht entwickeln als angenommen, weil z.B. die Zolleinnahmen das US-Budgetdefizit reduzieren oder das Ausgabenpaket in Deutschland zu einem kleineren Mehrangebot an Bundesanleihen führt als erwartet, könnte es soweit sein.
Mit Verteidigungs- und Infrastrukturausgaben wollen Deutschland und die ganze EU die Produktivität und damit das gesamtwirtschaftliche Wachstumspotenzial erhöhen. Was bedeutet das für den Anleihenmarkt?
Diese Ausgaben werden erst nach und nach getätigt, die Wirkung stellt sich erst langfristig ein und wird begrenzt ausfallen. Es ist kein Game Changer und weckt auch keine «Animal Spirits» in der Privatwirtschaft. Das Angebot an Staatsanleihen wird deswegen nicht explodieren. Und der Inflationsausblick bleibt für die Bondmärkte ebenfalls günstig.
«Die Erhöhung der Ausgaben für Verteidigung und Infrastruktur in Deutschland und in der EU ist kein Game Changer.»
Zum Schluss noch eine Frage im Zusammenhang mit der Schuldentragfähigkeit: Als 1992 die Europäische Währungsunion geschaffen wurde, galt ein Verhältnis von unter 60 Prozent Staatschulden in Relation zum Bruttoinlandprodukt als gesund. Ist dieser Wert immer noch eine Referenz?
Nein. Die Maastricht-Kriterien sind für den Markt nicht mehr wichtig. Es gibt keine per se optimale Grösse für die Verschuldung. Grundsätzlich gibt es verschiedene Wege aus der Schuldenfalle: inflationieren, den Haushalt mit Sparen und Mehreinnahmen sanieren oder wie bereits besprochen die Produktivität und damit das BIP erhöhen, z.B. über Technologien wie die künstliche Intelligenz. Politiker verteilen gerne Subventionen, auch wenn dies keine optimale Kapitalallokation ist. Es ist denkbar, dass die Wähler eines Tages ihrer Regierung den Auftrag erteilen, den Staatshaushalt in Ordnung zu bringen. Aber noch ist nicht soweit. Zudem handelt es sich um langsame Entwicklungen, und in der Vergangenheit haben sich düstere Szenarien oft als falsch erwiesen. Sonst wäre beispielsweise Griechenland heute nicht der Liebling der Finanzmärkte.















