Der Missbrauch von Corona-Hilfsgeldern könnte weit grösser sein als angenommen, warnen Experten gegenüber finews.ch. Das hat auch mit dem internationalen Standing des Finanzplatzes zu tun. Die Banken sind gefordert.

Knapp 15 Milliarden Franken: So viele vom Bund verbürgte Corona-Notkredite sind inzwischen an Schweizer Firmen geflossen. Eine Unsumme, die Begehrlichkeiten weckt. So machen bereits erste Fälle von Veruntreuungen Schlagzeilen, wie der Fall von Unternehmern in der Waadt, die staatliche Hilfsgelder mutmasslich in die Türkei abzweigten.

Der Bund beschwichtigt: Es gebe erstaunlich wenige Verdachtsfälle. Auf über 100'000 vergebene Kredite untersuchen die Bürgschaftsorganisationen derzeit 109 mögliche Ungereimtheiten, wie das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) gegenüber der «NZZ» (Artikel bezahlpflichtig) zu Protokoll gab.

Indes, erfahrene Forensiker und Kenner von Bankprozessen mögen gegenüber finews.ch diese optimistische Sicht nicht teilen. Sie gehen von einer viel höheren Missbrauchsquote aus.

Dies auch unter der Annahme, dass viel ertrogenes Geld aus ausländischen Hilfsprogrammen den Weg zum Offshore-Finanzplatz Schweiz findet.

«Anteil liegt bei 10 Prozent»

«Seit Jahren lässt sich beobachten, dass bei gross angelegten Hilfsprogrammen, wie sie seit der Finanzkrise üblich sind, substanzielle Gelder zweckentfremdet werden», berichtet Veit Bütterlin von der Beratungsfirma Alix Partners in Zürich. Der internationale Experte im Bereich Finanz- und Wirtschaftskriminalität weiss: «Unserer Erfahrung nach liegt der Anteil der zweckentfremdeten Gelder als grobe Faustregel bei etwa 10 Prozent.»

Bütterlin hilft Schweizer Banken, die im Auftrag des Bundesrats die Corona-Milliarden unter die Unternehmen bringen, bei der Aufrüstung und Justierung ihrer Compliance-Systeme. Die Geldinstitute sind als Katalysator des Notkredit-Programms dessen erste Verteidigungslinie. Der Umstand, dass sie vom Bund die Weisung haben, die Gelder rasch und gegen knappe Angaben zu verteilen, macht ihnen die Arbeit angesichts erfinderischer Betrugsmaschen zusätzlich schwer. Von der schieren Menge der Kredite ganz zu schweigen.

Coiffeure, Mafia, Extremisten

Der Alix-Experte attestiert den Instituten «hervorragende Arbeit» beim Erkennen von Verdachtsfällen. «Allerdings hängt viel davon an, dass die Institute nach den richtigen Mustern Suchen – denn diese haben sich mit der Krise ebenfalls verändert», erklärt er.

Seiner Erfahrung nach variieren die Möglichkeiten des Missbrauchs von Hilfsgeldern mit den involvierten Teilnehmern. Von Coiffeursalons, die Umsatzzahlen manipulieren, über kriminelle Organisationen, die Scheinfirmen aufbauen, um Hilfsgelder einzusammeln, bis hin zu extremistischen Organisationen, die eine neue Finanzierungsquelle entdecken. «Auch die Schweiz ist von solchem Betrug betroffen», bestätigt der Forensiker.

Verdächtige Korrespondenzkonten

Immerhin: In der Schweiz arbeiten die Bürgschaftsorganisationen Hand in Hand mit der Eidgenössischen Finanzkontrolle, die Steuer- und AHV-Daten der Unternehmen mit den Kreditgesuchen abgleicht. Die Beratungsfirma PwC wurde zudem hinzugezogen, um Mehrfachgesuche bei verschiedenen Banken zu blocken. Richtig schwierig wird es für die Financial-Crime-Abteilungen der Banken, wenn die Gelder aus ausländischen Hilfsprogrammen auf Schweizer Konti fliessen. Angesichts der Bedeutung des Offshore-Bankenplatzes liegt das auf der Hand.

«Die Schweiz ist als globalisierter Finanzplatz ein präferiertes Ziel», weiss Bütterlin. Betroffen seien alle Institute mit einer internationalen Kundschaft. Dabei muss es sich nicht einmal um eigene Kunden handeln – solche Gelder können auch über Korrespondenzkonten fliessen, wie er erklärt.

Banken sind gemäss den Anti-Geldwäsche-Regularien der Financial Action Task Force (FATF) verpflichtet, den Zahlungsverkehr zu überwachen. Doch das ist einfacher gesagt als getan, denn manche ausländischen Regulatoren haben die Identifikationspflicht in Verbindung mit Hilfskrediten temporär ausgesetzt. So in Deutschland, wo der Regulator die Banken ausdrücklich aufforderte, auf die sonst übliche Risikoprüfung (KYC) verzichten.

Money Mules als Muster

«So steigt das Risiko zweifelhafter Empfänger, die dann wiederum Gelder weitertransferieren. Auch treten manche Muster der Geldwäsche nun häufiger auf», sagt Bütterlin.

Eines dieser neuen Muster ist das der so genannten «Money Mules». Dabei transferieren vermeintlich unbeteiligte Personen illegal erworbene Mittel für andere. Wenn das automatische Transaktions-Monitoring der Banken nicht auf diese und andere neue Maschen eingestellt ist – dann gehen sie durch.

Denn das ist das zweite grosse Problem des Banken-Abwehrdispositivs: Zu viel Volumen trifft auf eine wegen der Pandemie ausgedünnte Verteidigung. Das weiss Ingo Rauser, Partner der Beratungsfirma Capco, die Banken auch bei der Bereitstellung von Compliance-Prozessen unterstützt. Der starken Zunahme der kriminellen Handlungen insgesamt stehen fundierte Kontrollmechanismen gegenüber, sagt er. «Die Mechanismen stossen allerdings zum Teil aufgrund der geringeren Ressourcen in Krisenzeiten und wegen limitierter technologischer Kapazitäten an ihre Grenzen.»

99 Prozent falscher Alarm

Und wie. «Bei den Banken haben wir eine extreme Zunahme der Verdachtsmeldungen gesehen», berichtet Rauser. Diese «Alerts» können zwar grösstenteils mit modernen Systemen und durch zusätzlichen Aufwand bewältigt werden. Allerdings mussten manche Institute priorisieren und arbeiten zum Teil jetzt noch das Backlog ab, so der Berater.

Die Krise legt offen, dass es bei den Banken viel Leerlauf gibt. So schauen sich viele Banken bei der Überwachung des Zahlungsverkehrs zwischen 95 und 99 Prozent «false positive»-Fälle an. Da diese falschen Alarmmeldungen händisch abgeklärt werden müssen, resultiert eine enorme Verschwendung von Ressourcen.

Die neue Normalität?

Die Banken, die als privatwirtschaftliche Unternehmen voll im Risiko stehen, können sich Mängel bei der Bekämpfung von Geldwäscherei und Betrug grundsätzlich nicht leisten: Sie müssen nachrüsten. «Da die Pandemie uns wohl noch länger in Atem halten wird, muss davon ausgegangen werden, dass der Krisenmodus auch bei der Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität zur neuen Normalität wird», sagt Rauser. Banken sollten ihre Massnahmen grundsätzlich überdenken und Systeminvestitionen vornehmen, findet er.

Dies könnte am Ende auch helfen, Kosten zu sparen. Richtig justierte Systeme fangen die Geldesel ab – ohne sich um die unbescholtene Herde zu kümmern.

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