Vertragspaket: Warum die Beziehung nicht einfach mit Geld regeln?
Wer die Schweizer Politik schon etwas länger beobachtet, kann sich eines gewissen Déjà-vus nur schwer verwehren. Die sich langsam entfaltende Debatte um das vom Bundesrat vorgeschlagene Vertragspaket mit der EU (über das frühestens 2027 abgestimmt werden dürfte) verläuft immer noch weitgehend entlang den Fronten, die sich schon in der Diskussion im Vorfeld der Abstimmung über den Beitritt des Landes zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) im Dezember 1992 geformt haben – und zum Teil sogar noch mit den gleichen Protagonisten.
Auf der einen Seite stehen diejenigen, welche die grosse Bedeutung geregelter Beziehungen zum wichtigsten Aussenhandelspartner der Schweiz betonen. Auch wenn die Parolen meist noch nicht gefasst worden sind, ist doch zu erwarten, dass dazu im Wesentlichen der Bundesrat, die Wirtschaftsverbände (und in deren Schatten auch die organisierte Finanzbranche), die Gewerkschaften und – bis auf eine grosse Ausnahme – alle Parteien zählen werden.
FDP wird nicht aus der Phalanx ausscheren
Auch die FDP, deren Delegierten diesen Samstag im Berner Wankdorf einen Grundsatzentscheid zum neuen Vertragspaket fällen werden, dürften nicht aus der Phalanx nicht ausscheren. Allerdings ist die innerparteiliche Opposition nicht zu unterschätzen, und jüngst hat in der NZZ, wo die liberale Partei ihren Richtungsstreit am liebsten austrägt, doch etwas überraschend sogar Alt-Bundesrat Johann Schneider-Ammann, nicht gerade die Inkarnation eines notorischen Dissidenten, eindringlich für eine Ablehnung plädiert.
Auf der anderen Seite stehen die Kräfte, die den Souveränitäts- und Demokratieverzicht, der mit den Verträgen verbunden wäre, scheuen wie der Teufel das Weihwasser. Sie scharen sich faute de mieux um die SVP, für die Skepsis gegenüber internationaler Integration und Institutionen zum Markenkern gehört.
Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu 1992
Und wie schon 1992 gehen auch die Meinungen darüber, wie gross die mit den Verträgen verbundenen wirtschaftlichen Vorteile bzw. Verluste an Souveränität und Demokratie in der Praxis tatsächlich sein würden, weit auseinander.
Allerdings gibt es neben Parallelen auch Unterschiede.
- Die Wirtschaft ist diesmal viel weniger geeint als damals. 1992 waren, abgesehen natürlich von Christoph Blocher und seinen engsten Mitstreitern, Unternehmer, die sich dazu bekannten, nicht dem EWR beitreten zu wollen, eine rare Spezies. Heute dagegen ist die Liste der Mitglieder von «Kompass Europa», welche die neuen Verträge wegen der dynamischen Rechtsübernahme und der starken Stellung des Europäischen Gerichtshofs ablehnt, ziemlich lang. Auffällig viele prominente Vertreter aus der Finanzindustrie figurieren darauf, ganz anders noch als 1992, als ein Nichtmitschwimmen im Mainstream in der Bankenwelt Grund für einen Bannstrahl war. Dieser traf damals auch Blocher, der sein Amt als UBS-Verwaltungsrat verlor (wenn auch erst nach der Abstimmung).
- Die negativen Folgen der Zuwanderung werden heute viel breiter und differenziert thematisiert und reflektiert, auch unter Ökonomen und in Unternehmerkreisen. Noch bis in die 2010er-Jahre hinein, also nach den Abstimmungen über die Bilateralen I und die Bilateralen II, galt selbst eine nur leicht kritische Haltung zur Personenfreizügigkeit als «Verdachtsmoment», auch im Finanz- und Wirtschaftsjournalismus.
- Von der Begeisterung, von dem inneren Feuer, seinerzeit Antrieb für viele EWR-Befürworter, ist wenig übriggeblieben. Unternehmer haben unterdessen selber erfahren, dass die EU mehr ein Bürokratiemoloch und weniger ein liberales Reformprojekt ist. Wenn sie ja sagen, dann nicht aus Enthusiasmus, sondern weil sie sich davon ein Stück Planungssicherheit versprechen, was insbesondere in der angespannten Weltlage wertvoll sein kann.
- Die Spaltung im Bundesrat dürfte noch tiefer sein als damals. Zur Erinnerung: Selbst in der SVP gab es 1992 glühende Befürworter des EWR, etwa Bundesrat Adolf Ogi, der den EWR als Trainingslager für die EU bezeichnete. Heute setzt sich die Landesregierung nüchtern, gewissermassen mit angezogener Handbremse, für das Vertragswerk ein. Allerdings: In der Zwischenzeit freigegebene Protokolle zeigen, dass das Kollegium intern den EWR recht kritisch beurteilte, einen Beitritt aber als wirtschaftliche Notwendigkeit betrachtete. Wie sehr der Schein (früher wie heute) trügen kann, zeigte jüngst ein Interview mit FDP-Urgestein Jean-Pierre Bonny (der den EWR ablehnte). Er enthüllte gegenüber der NZZ, der damalige Bundesrat Flavio Cotti (der nach aussen als vehementer Integrationsturbo auftrat) habe ihn in vertraulichen Telefongesprächen zu mehr Oppositionsarbeit ermuntert.
- Die Grüne Partei dürfte diesmal auf Seiten der Befürworter sein, anders als 1992, als ihre Nein-Parole wohl dafür sorgte, dass der Beitritt nicht nur das Stände- sondern auch das Volksmehr verfehlte; für die neue Abstimmung soll gemäss Bundesrat allein das Volksmehr zählen, ein ärgerliches Kapitel für sich. Auf dem Papier ist das ein Vorteil für Bundesrat & Co, allerdings haben sich die Bindungen an die Parteien in den letzten dreissig Jahren weiter gelockert. Dass es neben der SVP-Stammwählerschaft eine starke Gruppe gibt, die fallweise ihre Skepsis gegenüber dem Staat und wohl auch gegenüber internationalen Bindungen zum Ausdruck bringt, hat jüngst die Abstimmung über die E-ID gezeigt.
- Stark verändert hat sich aufgrund des gesellschaftlichen Wandels und der massiven Zuwanderung die Zusammensetzung der Schweizer Bevölkerung. Die familiären und verwandtschaftlichen Verbindungen zum Ausland sind stärker geworden. Das könnte dazu führen, dass viele aus praktischen Gründen grossen Wert auf möglichst reibungslose Beziehungen zur EU legen – und dafür bereit sind, Konzessionen bei der Souveränität und den (direkt-)demokratischen Rechten hinzunehmen, vielleicht auch deshalb, weil ihnen diese spezifisch schweizerischen Werte gar nicht so wichtig sind.
- Die USA haben sich vom Multilateralismus teilweise verabschiedet, und Donald Trump gilt hierzulande nicht gerade als Sympathieträger. Manch Bürger könnte aus diesem Grund eine weitere Annäherung an die EU als das kleinere Übel betrachten. Allerdings hat sich die EU selber seither stark gewandelt. 1992, kurze Zeit nach dem Mauerfall, strotzte sie vor Kraft und Zuversicht – und beschloss im Vertrag von Maastricht die Schaffung der Währungsunion. Heute hat sie zwar mehr Mitglieder, aber das Schwergewicht Grossbritannien verloren – und wird weitherum mehr als Zweckgemeinschaft denn als idealistisches Projekt begriffen.
Diese Aufzählung ist nicht vollständig, legt indes nahe: Die Prognose über den Ausgang der kommenden Abstimmung – ob mit oder ohne Ständemehr – ist schwierig. Unabhängig davon ist aber klar: Die Beziehung der Schweiz zur EU wird vertrackt bleiben und auch immer wieder Konfliktpotenzial (nicht nur im Dauerbrenner Zuwanderung) bieten.
Vor einigen Wochen hat Alexandre Fasel, Staatssekretär im Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten, an einer Veranstaltung des Europa-Instituts der Universität Zürich geschildert, wie der Bundesrat mit einem neuen Ansatz in die Verhandlungen gegangen ist, nachdem er 2021 die Übung mit dem Rahmenvertrag abgebrochen hatte. Egal, was man vom nun auf dem Tisch liegenden Vertragspaket hält: Der Rahmenvertrag hat sich nicht als so alternativlos erwiesen, wie dies viele Integrationsbefürworter darstellten.
Ein abermaliger Reset und ein neues Hauptinstrument
Wahrscheinlich wäre es sinnvoll, sich schon heute über einen abermaligen Reset, also einen neuen Verhandlungsansatz, Gedanken zu machen. Ausgangspunkt könnte dabei die Überlegung sein, dass bei der EU und ihren Mitgliedstaaten der Finanzbedarf aus vielerlei Gründen weiter zunehmen dürfte, die Schuldentragfähigkeit jedoch nicht an Grenzen stösst.
Bereits heute leistet die Schweiz mit ökonomisch kaum begründbaren «Kohäsionsbeiträgen» eine Transferzahlung, mit der die EU auch in Zukunft fest rechnet und die hierzulande als Preis für den (partiellen) Zugang zum Binnenmarkt betrachtet wird. Es spricht daher einiges dafür, künftig auf Zahlungen als transparentes Hauptinstrument zur Sicherung eines hinreichend einvernehmlichen Verhältnisses zur EU zu setzen.
Die bessere Alternative: Schweizer Geld für die EU
Das würde bedeuten, mit der EU vernünftige Eckwerte für die Höhe der Zahlungen auszuhandeln, damit die Schweiz ihren Frieden hat, die Zuwanderung wieder eigenständig regeln kann und dort über den Marktzugang verfügt, wo er ihr wirklich nutzt. Auch das wäre eine anspruchsvolle und schwierige Aufgabe. Aber wenn die Alternative heisst, einen Vertrag von 2000 Seiten zu unterzeichnen, laufend neue Gesetze und Regulierungen zu übernehmen, schleichend Souveränität sowie demokratische Rechte einzubüssen und sich den Launen fremder Richter auszuliefern, sollte ein solches Modell ernsthaft geprüft werden.
Die Diplomaten in Bundesbern könnten sich dabei übrigens durchaus von den guten und weniger guten Erfahrungen inspirieren lassen, die Schweizer Banken in den letzten Jahrzehnten im Ausland mit solchen «Ablasshändeln» zur Genüge gesammelt haben.
Wetten, dass die EU, wenn gutes Schweizer Geld lockt, einen Weg finden wird, ihre Prinzipien «pragmatisch» anzuwenden? Mit Blick auf die Entwicklung der Staatshaushalte dürfte auch das Momentum für eine solche Lösung auf der Seite unseres Landes sein.