In einem viel beachteten Beitrag hat der Schweizer Unternehmer Adriano Lucatelli auf finews.first einen «Reset» für den Kapitalismus gefordert. Nun äussert Alberto Stival in einem Gastbeitrag seine Zweifel an dieser These.

Von Alberto Stival, Mitbegründer von Alma Impact

Mit Interesse habe ich den Beitrag von Adriano Lucatelli «Warum der Kapitalismus einen Reset braucht» gelesen, in dem er seine Zweifel an der politisch korrekten «Woke»-Ideologie äussert und eine Wiederbelebung des Shareholder Value fordert. Mir scheint es, als wolle er das Konzept des «Stakeholder-Ansatzes», das gerade in der Realwirtschaft Fuss fasst, in Frage stellen.

Aus seinem Text geht hervor, dass sich seine Kritik vor allem auf die seiner Meinung nach «extremen» Abwege von Unternehmen stützt, die sich als besonders nachhaltig und aufmerksam gegenüber sozialen und ökologischen Fragen profilieren.

Ich bin davon überzeugt, dass Unternehmen, die ihre Vision und Strategie auf ein gesundes Verhältnis zu allen Stakeholdern – natürlich auch zu den Eigentümern (den Shareholdern), aber auch zu Kunden, Mitarbeitern, Lieferanten, öffentlichen Stellen und dem Staat, der Zivilgesellschaft, Wettbewerbern – gründen, mittel- und langfristig am erfolgreichsten sein werden.

Oberste Ziele des Stakeholder-Managements

Es gibt inzwischen mehrere Tausend akademische Studien von den renommiertesten Universitäten der Welt, die zeigen, dass nachhaltige Unternehmen in den meisten Fällen wirtschaftlich besser abschneiden (siehe zum Beispiel: «ESG and Financial Performance», NYU Stern), was sich normalerweise auch im relativen Aktienkurs dieser Unternehmen widerspiegelt.

Die Gründe dafür sind klar, wenn man bedenkt, dass die obersten Ziele des Stakeholder-Managements zufriedenere und loyalere Kunden, motiviertere Mitarbeitende (mit geringeren Fehlzeiten und Fluktuationsraten), effizientere Produktionsprozesse (mit erheblichen Einsparungen beim Energie- und Materialverbrauch) und Investitionen in Forschung und Entwicklung sind.

Alles nur Fassaden-Marketing

Wer hingegen würde in Unternehmen investieren wollen, in denen Kunden und Mitarbeitende unzufrieden sind, in denen Ineffizienz in der Produktion herrscht, in denen nichts in  Forschung und Entwicklung investiert wird, und in denen Risiken im Zusammenhang mit Umwelt- oder Sozialfragen drohen, die möglicherweise zu millionenschweren Klagen oder einem enormen Imageschaden führen können?

Heutzutage stellt die Marke eines Unternehmens einen grundlegenden wirtschaftlichen Wert dar, in vielen Fällen sogar den Hauptwert: Um das Risiko zu minimieren, ihn zu zerstören, nachdem es wahrscheinlich Dutzende von Jahren oder sogar Generationen gedauert hat, ihn zu schaffen, müssen sich die Unternehmen mit einem angemessenen Stakeholder-Management ausstatten.

In diesem Sinne sind die von Lucatelli angeführten Fälle meines Erachtens hervorragende Beispiele für ein falsches Stakeholder-Management oder, um es mit den üblichen Begriffen auszudrücken, für «Greenwashing» und «Socialwashing», also für sogenanntes «Fassaden-Marketing» – und genau aus diesem Grund sind sie gescheitert und mit ihnen die beteiligten Unternehmen.

Ohne grosse Ankündigungen

Echtes Stakeholder-Management ist etwas anderes und erfordert einen Anpassungsprozess, der Jahre dauern kann, weil er die Unternehmenskultur und die Denkweise der Manager verändert. Es reicht nicht aus, Werbung für grüne Themen zu machen oder eine Frau in den Vorstand zu berufen, ohne an den Wert der Geschlechtervielfalt zu glauben, oder einen Hochglanzbericht über Nachhaltigkeit zu veröffentlichen, ohne sich echte Ziele in diesem Bereich zu setzen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Annahme, das Konzept des Shareholder Value sei veraltet, weil es einzelne, zu viele Fälle gibt, in denen vom ursprünglichen Modell abgewichen wird, meiner Meinung nach vereinfachend und falsch wäre. Dies wird auch durch die jüngsten Studien über Familienunternehmen bestätigt, die, oft ohne grosse Ankündigungen oder vielleicht sogar ohne es zu wissen, schon immer das Konzept des Stakeholder-Managements angewandt haben und daher in Zeiten der Wirtschaftskrise widerstandsfähiger sind.

Interessante Gelegenheit für Finanzinvestoren

In zunehmendem Masse stellen sie daher auch eine interessante Gelegenheit für Finanzinvestoren dar, die vielleicht von der Haltung bestimmter Manager multinationaler Unternehmen angewidert sind, deren Ziel fast immer nur noch die kurzfristige Gewinnmaximierung ist.

Denn es ist gerade die kurzfristige Sichtweise, die diese Manager dazu bringt, eine richtige Idee, wie die des Stakeholder-Managements, in Scheinoperationen umzuwandeln, die auf «politische Korrektheit» ausgerichtet sind, wie Lucatelli sagen würde, und die nichts anderes tun, als das Risiko des Scheiterns der Unternehmen selbst noch zu erhöhen.


Alberto Stival ist Mitbegründer von Alma Impact, einem Schulungs- und Unternehmensberatungsunternehmen. Er hat an der Universität Fribourg und am University College Dublin politische Ökonomie studiert. Er vertritt Swiss Sustainable Finance im Tessin und ist Präsident von PR Suisse (Schweizerischer Verband für Öffentlichkeitsarbeit) sowie des Board Forum der italienischen Schweiz.

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