Adriano Lucatelli: «Bei Descartes mussten wir immer haushalten»

Die Gründung von Descartes Finance fiel in eine Zeit, als in den USA Anbieter wie Wealthfront oder Interactive Brokers das klassische Wealth Management mit günstigen, radikal passiven Strategien herausforderten.

Auch Lucatelli wollte das behäbige Schweizer Retail- und Private Banking aufrütteln und zeigen, dass digitale Vermögensverwaltung nicht einfach ein Anhängsel der alten Welt ist.

Zum zehnjährigen Bestehen seiner Firma zieht der Gründer Bilanz. Im Gespräch mit finews.ch zeigt er sich meinungsfreudig wie eh und je – doch hinter jedem flotten Spruch steckt spürbar viel Erfahrung und Reflexion.


Herr Lucatelli, Sie stammen ursprünglich aus der traditionellen Bankenwelt und haben sich vor zehn Jahren entschieden, eine digitalen Robo Advisor respektive Vermögensverwalter zu gründen. Was war damals Ihre Erwartung?

Ich wusste schon zu meinen UBS-Zeiten, dass Banken im Kern Techfirmen sind – nur wollte man daraus keine Konsequenzen ziehen. Man hielt an schweren Kernbankensystemen fest, obwohl schlankere Lösungen in anderen Ländern längst eine Commodity waren, die man gemeinsam mit einer Banklizenz erwerben kann. Ich erwartete, dass sich das auch hier ändern würde: dass man Dienstleistungen digital anbietet, die Kunden digital anspricht, über Social Media oder andere Kanäle. Mit den Digital Natives, die ihr Geld selbst verwalten wollten, schien mir das nur logisch. Überrascht hat mich das Tempo – oder besser gesagt: das fehlende Tempo. Die Leute sahen die Entwicklung, fanden sie interessant, aber handelten nicht.

Warum blieben die Kunden so zögerlich?

Weil es uns in der Schweiz schlicht zu gut geht. Da ist Bequemlichkeit ein starkes Argument. Ob man nun 100 Franken für ein Konto bezahlt oder nichts, war für viele kein Grund zum Wechseln. Man wollte erst einmal abwarten: «Mal schauen, ob es das nächstes Jahr noch gibt…» Und da es ums eigene Geld geht, oft um Vorsorgegelder, war man bei neuen Playern ohne institutionellen Rückhalt (wie etwa Frankly mit der ZKB) vorsichtig.

Sie haben kürzlich auf LinkedIn eine interessante Retrospektive veröffentlicht, auch mit Blick auf eigene Versäumnisse.

Mit Descartes sind wir das Thema am falschen Ende angegangen: Aus einem Private-Banking-Background her kommend, habe ich mich zuerst auf das freie Vermögen konzentriert. Rückblickend hätte man, wie in den USA, mit der Vorsorge beginnen und erst später ins freie Vermögen expandieren sollen.

«Mit den bestehenden Partnern erreichen wir heute 600’000 bis 700’000 mehrheitlich erwerbstätige Endkunden.»

Sie starteten also mit der Vermögensverwaltung fürs freie Vermögen?

Ja. Aber 2017, bei einem Besuch bei amerikanischen Robo-Advisors, wurden mir zwei Dinge klar: Erstens waren wir technologisch weiter als die Amerikaner, etwa beim weltweiten Handel von Multi-Currency-Titeln. Und zweitens kam deren Wachstum aus der privaten oder halbprivaten Vorsorge – dem 401(k), einem mit unserer Säule 3a verwandten System, da beide staatlich geförderte Vorsorgeinstrumente sind, die den privaten Aufbau von Altersvermögen unterstützen. Ich habe damals realisiert, dass die Schweizerinnen und Schweizer gar nicht so viel freies Vermögen haben. Vieles steckt im Zwangssparen via Pensionskasse oder im Eigenheim. Wenn man Cash-outs für Ferien, Ausbildung, Krankenkasse und Hypothek sowie die Säule 3a berücksichtigt, bleibt bei den meisten wenig übrig. Darum sind Private-Banking-Kunden hierzulande meist jenseits der Pensionierung, vielleicht mit der Ausnahme von Unternehmern oder Top-Kadern. Für die breite Bevölkerung ist das freie Vermögen klein.

Die Vorstellung, dass in der Bahnhofstrasse jeder Zweite mal eben zwei Millionen von einer Bank zur anderen überweisen kann, ist also falsch?

Total falsch. Der durchschnittliche Zürcher kann sich auch nicht einfach spontan eine Kelly Bag leisten (lacht). Das heisst aber nicht, dass er arm ist. Sein Vermögen ist einfach gebunden. Und in den gebundenen Bereichen sind die Werte stark gestiegen: wegen der Börsen, wegen der Zuwanderung, wegen des knappen Raums und der Nullzinspolitik. In der Vorsorge liegt viel Geld – und dort lässt sich die Anlage standardisieren. Traditionell war der Schweizer eher ein «Single-Stock-Investor»: Meine Generation kauft lieber Nestlé, Roche oder Stadler, statt einem Fonds zu vertrauen. Ein Robo-Advisor mit standardisierten Portfolios stand da etwas quer in der Landschaft.

Viele denken: «Nestlé zahlt Dividende, essen müssen die Leute immer…»

Genau. Oder: «Roche, krank werden sie auch immer», und «Züge fahren auch immer, also nehme ich Stadler.» Diese Logik hat hier oft funktioniert, weil wir ein Dividendenmarkt sind. Man konnte immer schön Dividenden abschöpfen, und es ging «süferli» nach oben. Aber eine solche Strategie ist vereinfacht und langfristig auch riskant. Dieses Denken verschwindet jetzt langsam. Die jüngeren Investoren ticken anders.

«Private-Banking-Kunden sind hierzulande meist jenseits der Pensionierung.»

Wie anders?

Sie wollen einfache, klare Lösungen – «don’t make me think». Sie kommen aus einer digitalen Welt, die Komplexität scheut. Und wer einmal investiert, bleibt meist diszipliniert dabei, statt ständig rein- und rauszugehen. Das verhindert Performanceverluste – ein grosser Vorteil.

2017 bis 2019 erkannten Sie dann, dass das Vorsorgegeschäft der bessere Ansatzpunkt ist?

Ja. Dort liegen die grossen Sparbeträge der Jüngeren und der breiten Bevölkerung. Auch das Freizügigkeitskonto gewinnt an Bedeutung, weil Lebensläufe heute flexibler sind. Früher galt man bei einer Auszeit als «fuule Siech», heute ist sie normal – und da entsteht Liquidität, die man anlegen sollte. Nicht auf einem Bankkonto, um der Bank die Kreditvergabe zu vereinfachen, sondern in einem Anlageportfolio für sich selbst. Diese Denkweise hat sich dank Finanzbloggern und neuen Medien verbreitet und ist heute fast Mainstream. Aber viele Etablierte sind noch im Denken der alten Welt gefangen – mit ihren Cash Cows, altem Private Banking und überteuerten, aktiv gemanagten Fonds im Retailgeschäft. Das bremst Innovation. Trotzdem: Der Wandel kommt, wenn auch langsamer als gedacht.

Sie haben Descartes dann auf eine B2B2C-Strategie ausgerichtet, mit Fokus auf Vorsorge-Partnerschaften.

Das war ein wichtiger Schritt. In der digitalen Welt ist es völlig normal, dass man gleichzeitig Konkurrent und Partner ist – «Coopetition». Man kann eine funktionierende Plattform anderen zur Verfügung stellen, die das Rad nicht neu erfinden müssen. Viele Banken tun sich damit schwer. Sie glauben, sie müssten alles selbst machen, weil der Kunde ja «wegen ihnen» kommt. In Wahrheit bleibt der Kunde, wenn er ehrliche Beratung, Transparenz und faire Preise bekommt. Niemand stört sich daran, wenn ein Institut ein gutes Fremdprodukt nutzt. Ich glaube, wir stehen kurz vor einem Sprung. Wenn die ersten 15 bis 20 Prozent der Kundschaft von der alten in die neue Welt wechseln, wird es exponentiell weitergehen.

«Das war ein wichtiger Schritt. In der digitalen Welt ist es völlig normal, dass man gleichzeitig Konkurrent und Partner ist.»

Welche Partner sind für Descartes auf dem B2B2C-Zweig besonders wichtig?

Vor allem Yuh, Neon und die Glarner Regionalbank. Alle haben ähnliche Bedürfnisse: Sie wollen digitale Lösungen für ihre Kunden, aber gleichzeitig die Kundenbeziehung nicht aus der Hand geben.

Und das wollen Sie weiter ausbauen?

Alle grossen Neobanken, mit denen wir als digitaler Anbieter viel gemeinsam haben, wären natürlich spannend. Eigentlich fehlt nur noch Revolut (lacht). Im Ernst: Mit den bestehenden Partnern erreichen wir heute 600’000 bis 700’000 mehrheitlich erwerbstätige Endkunden. Für ein Land mit neun Millionen Einwohnern ist das stark. Aber natürlich versuchen wir, diese Basis noch weiter zu vergrössern.

Die Menge allein macht es nicht. Coop hatte mit Finance Plus ja ebenfalls gehofft, aus der Kundenbasis Kapital zu schlagen. Immerhin kauft dort das halbe Land Milch und Eier ein. Wieso hat das dort nicht funktioniert?

Das war bei Coop Finance Plus wohl etwas naiv gedacht. Idealerweise kommen Partner in einem solchen Ökosystem aus derselben Industrie. Oder aber sie lösen wenigstens ihr zentrales Markenversprechen ein. Wenn Sie als Retailer Finanzprodukte anbieten wollen, müssen Sie zu den günstigsten am Markt gehören. Anders sähe es aus, wenn Sie Patek Philippe heissen, aber deren Kunden interessieren sich vermutlich weniger für die Säule 3a.

«Unsere Unabhängigkeit ist unser grösster Vorteil.»

Coop Finance Plus war nicht allein. In der Schweizer Fintech-Welt gab es einige ambitionierte Projekte, die entweder gescheitert sind oder in Schwierigkeiten stecken: Volt von Vontobel, Radicant… Warum fliegen diese Projekte nicht?

Weil sie meist von Leuten aus der alten Welt erdacht und gemacht werden. Diese glauben, man müsse nur etwas Digitales anhängen – und schon läuft es, beliebig skalierbar. Aber wer in diesem Space erfolgreich sein will, muss digital denken. Oft war es auch «over-engineered»: typisch Bank – alles perfekt, alles teuer. Aber der Schweizer Markt ist klein. Wenn dann der Erfolg ausbleibt, heisst es: «Ich hab’s ja immer gesagt, das klappt nie!» – und das Projekt wird eingestellt. Die Idee war meist gut, nur zu gross und zu teuer umgesetzt. Bei Descartes mussten wir immer haushalten. Wir zahlen unsere eigenen Löhne, schreiben die Checks selbst – das verändert das Denken. Viele Corporate-Initiativen überleben nicht, weil sie zu luxuriös aufgesetzt sind. Die Akquisitionskosten sind enorm, und der Versuch, mit Bonusaktionen schnell viele Kunden zu gewinnen, hat sich als Trugschluss erwiesen.

Und man hat wohl auch die Marktgrösse überschätzt?

Ja, eindeutig.

Heute stehen sich zahlreiche Player gegenüber – von den Grossbanken bis zu Neobanken und internationalen Anbietern wie Revolut. Wo sehen Sie den Weg für Descartes?

Unsere Unabhängigkeit ist unser grösster Vorteil. Wir sind praktisch die Einzigen, die keiner Bank gehören, keine eigene Produkte vertreiben und ohne eigene Stiftungen agieren. Wir planen auch nicht, diese Unabhängigkeit durch eine eigene Bank- oder Wertschriftenhauslizenz zu verlieren. Wer in der Schweiz überleben will, muss unternehmerisch und opportunistisch bleiben. Der Markt ist verteilt, die Eintrittskosten sind hoch, und neue Anbieter werden es schwer haben. Wer neu einsteigt, muss Millionen investieren, die sich später nur schwer wieder einbringen lassen: Wir sind heute Finma-reguliert, unsere Technologie ist aufwendig. Für uns aber ist die Situation gut. Wir haben mittlerweile einen etablierten Namen, einen klaren Platz im Markt – vielleicht den etwas edleren unter den digitalen Anbietern. Ich bin zuversichtlich. Aber ohne die B2B-Komponente des B2B2C wäre es bedeutend schwieriger.


Adriano Lucatelli ist Gründer und CEO des Zürcher Fintech-Unternehmens Descartes Finance, das er 2015 ins Leben rief. Zuvor war er als Managing Director und Mitglied des Management Committee bei der UBS Schweiz sowie in leitenden Funktionen bei der Credit Suisse in Zürich und London tätig. Der promovierte Ökonom der Universität Zürich verfügt über einen Masterabschluss der London School of Economics und der University of Rochester sowie einen Bachelor der University of Nevada. Zwischen 2012 und 2018 lehrte er im Bereich internationale Finanzmärkte und Währungspolitik an der Universität Zürich.