Rodolfo De Benedetti: «Vertrauen braucht Zeit»
finews.ch trifft Rodolfo De Benedetti am Hauptsitz von Decalia an der Rue du Rhône, einer der prominentesten Geschäftsstrassen Genfs. Er ist soeben aus Mailand zurückgekehrt, wo er auch das italienische Büro der Vermögensverwaltung leitet.
De Benedetti spricht direkt und überlegt, mit spürbarem Stolz auf das Erreichte, aber auch mit Ehrlichkeit darüber, wo es besser hätte laufen können. Mit seinem grau melierten Bart und seiner ruhigen Art verkörpert er eine seltene Verbindung aus italienischer Eleganz und Ambition mit schweizerischer Bescheidenheit.
Herr De Benedetti, Decalia hat gerade das zehnjährige Bestehen gefeiert. Ist das in der Finanzwelt eine lange oder eine kurze Zeit?
Zehn Jahre klingen kurz, sind aber eine beachtliche Zeitspanne. Wenn man etwas von Grund auf aufbaut, dauert alles länger, als man gedacht hat: das Geschäftsmodell, das Team, die Positionierung im Markt. Auch Glaubwürdigkeit entsteht nicht über Nacht. Selbst wenn man einen Namen aus früheren Tätigkeiten mitbringt, heisst es zuerst: «Zeig mir zuerst, was du kannst.» Das ist menschlich und auch gesund. Überhastete Eile ist nach einer Unternehmensgründung fehl am Platz. Es braucht Zeit und Einsatz, um Wurzeln zu schlagen.
Die Schweiz ist eine Vertrauens-Wirtschaft, in der es daher manchmal eher langsam zu und hergeht. Hat das den Aufbau zusätzlich erschwert?
Teilweise ja. Insgesamt kann man aber in der Schweiz pragmatisch arbeiten. Im Vergleich zu Italien oder Frankreich ist sie weniger bürokratisch. Das zählt besonders in einer stark regulierten Branche wie unserer. Natürlich beruht dieses Geschäft auf Vertrauen. Jeder behauptet, vertrauenswürdig zu sein, doch man muss es beweisen. Das braucht Zeit.
Worin sehen Sie den grössten Erfolg von Decalia bisher?
Wir haben aus dem Nichts ein Unternehmen geschaffen, das für Qualität, Integrität und Professionalität steht. Heute hat Decalia einen eigenen Namen und eine eigene Reputation, ist von den Kunden ebenso anerkannt wie bei den Talenten, die bei uns arbeiten wollen. In einem People Business ist dieser immaterielle Wert das Entscheidende. Unser Leitsatz «Exploring New Trends» ist heute weithin bekannt, und wir haben gezeigt, dass wir ihn mit Leben füllen.
«Ziel ist nicht, alles zu machen, sondern wenige Dinge sehr gut.»
Wie gross ist Decalia heute?
Wir verwalten etwas mehr als 5,5 Milliarden Franken und beschäftigen über 70 Mitarbeitende – die meisten in Genf, dazu eine regulierte Tochtergesellschaft in Italien und ein kleines Büro in Zürich. Kürzlich haben wir Manuel Pedretti, zuvor bei der Man Group, verpflichtet, um unser Geschäft in der Deutschschweiz zu entwickeln.
In Sachen Asset Management ist das klein, im Kontext des Schweizer Wealth Management aber durchaus schon beachtlich.
Genau. Unter den Wealth Managern gehören wir wohl zur mittleren bis grösseren Kategorie, in Genf sicher zu den Top drei bis fünf. Im Vergleich zu den globalen Riesen des Asset Management sind wir winzig. Das ist aber durchaus beabsichtigt. Ab einer bestimmten Grösse wird es schwieriger, flexibel zu bleiben. Kleinere Häuser sind wendiger, entdecken Chancen, die grosse nicht sehen, und bieten eine persönlichere Betreuung. Wichtig ist, die kritische Masse zu erreichen, um investieren und Talente gewinnen zu können. Ab diesem Punkt wird schlank sein zum Vorteil.
Ein wichtiges Differenzierungsmerkmal ist auch, dass Sie gemeinsam mit Ihren Kunden investieren.
Das ist ein Grundprinzip und genau das, was die Kunden an Decalia schätzen. Wir haben mit unserem eigenen Kapital begonnen, und alles, was wir für Kunden tun, machen wir auch für uns selbst. Wenn wir nicht genügend überzeugt sind, um selbst zu investieren, bieten wir es auch niemandem an. Grosse Häuser fragen: «Was kann ich verkaufen?» Wir fragen: «Würde ich das selbst kaufen?» Diese Gleichrichtung der Interessen mit unseren Kunden diszipliniert uns.
«Meine Familie wurde während des Zweiten Weltkriegs in der Schweiz aufgenommen – wir empfinden bis heute tiefe Verbundenheit und Dankbarkeit gegenüber diesem Land.»
Als Sie vor fünf Jahren letztmals mit finews.ch sprachen, betonten Sie die thematischen Investment-Strategien von Decalia – langfristige Trends wie die Silver Generation oder die Kreislaufwirtschaft. Wie haben sich diese Strategien entwickelt?
Ehrlich gesagt: nicht ganz so gut wie erhofft. Das Problem liegt dabei weniger an den Themen selbst – ich bin überzeugt, dass man Rückenwind mitnehmen kann, wenn man in die richtigen strukturellen Trends investiert. Entscheidend ist dabei aber die Umsetzung. Dieses Geschäft hängt letztlich von Menschen ab: von Portfoliomanagern, die über Zyklen hinweg besser abschneiden als ihre Peers. Im Rückblick waren nicht alle Personalentscheide optimal, und der Wettbewerb ist enorm intensiv geworden. Vor zwanzig Jahren gab es viel weniger Fonds; heute konkurriert man mit Zehntausenden, dazu ETFs und Indexstrategien. In einem überfüllten ersten Performance-Quartil ist es schwer, herauszustechen.
Wie reagieren Sie darauf mit Ihrem Produktangebot?
Wir konzentrieren uns stärker. Lieber in wenigen Bereichen hervorragend sein als in vielen durchschnittlich. Wir suchen gezielt nach Themen mit wenig Konkurrenz, nach Nischen, Marktverwerfungen oder strukturellen Veränderungen, die andere übersehen. Man braucht beides: eine überzeugende Idee und die richtigen Menschen für die Umsetzung.
Ein Beispiel dafür?
Unsere Defense-Strategie. Vor rund zwei Jahren erkannten wir, dass Europa seine Verteidigungsausgaben massiv erhöhen würde. Wir beschlossen, darauf zu reagieren. Dies obwohl der Sektor wegen ESG-Bedenken lange als «nicht investierbar» galt. Wir haben intensiv diskutiert, ob das zu unseren Werten passt, und entschieden, dass verantwortungsvolles Investieren auch Sicherheit und Stabilität einschliessen kann. Wir waren früh dran, bevor das Thema Mode wurde, und haben seither eine überzeugende Performance geliefert. Solche Diskontinuitäten suchen wir: Momente, in denen sich die Marktwahrnehmung ändert und nur wenige die Kompetenz haben, rasch zu handeln.
Decalia ist in drei Bereichen tätig – Wealth Management, Asset Management und Private Markets. Beginnen wir mit dem Wealth Management: Was unterscheidet Sie von anderen?
Zunächst das bereits erwähnte Prinzip der Interessengleichheit. Wir investieren gemeinsam mit unseren Kunden. Unser Führungsteam trifft sich monatlich, um eine unabhängige makroökonomische Einschätzung zu entwickeln, die als Grundlage für alle Portfolios dient. Zweitens die Individualisierung: Bei Decalia erhält man ein Mandat, das wirklich massgeschneidert ist – auch bei Volumen, die für Grossbanken zu klein wären. Viele Kundinnen und Kunden sind müde von standardisierten, modellgetriebenen Portfolios; sie schätzen eine persönlichere Betreuung. Der dritte Punkt sind Ideen. Wir ermutigen unsere Portfoliomanager und Analysten, eigene Sichtweisen einzubringen und differenzierte Strategien vorzuschlagen. Und schliesslich die Servicequalität: In einem kleineren Unternehmen werden Entscheidungen schnell getroffen. Der Kundenberater sitzt nur wenige Schritte vom Executive Committee entfernt. Das schafft Verantwortung und Reaktionsfähigkeit, wie sie grössere Institute kaum bieten können.
Wie hat sich das Asset Management entwickelt?
Unser Produktangebot wurde gestrafft und fokussierter. Wir haben einige ältere Fonds geschlossen oder zusammengelegt und neue geschaffen, wo wir echte Expertise besitzen. Ziel ist nicht, alles zu machen, sondern wenige Dinge sehr gut. Wenn wir die richtige Kombination aus Thema und Talent finden, handeln wir entschlossen – wie bei unserer Defense-Strategie, die wir früh lanciert haben und die seither eine überzeugende Performance vorweist. Dieses Modell wollen wir wiederholen: strukturelle Veränderungen früh erkennen, sie mit fundiertem Knowhow verbinden und rasch umsetzen.
Auch die Private Markets sind inzwischen ein wichtiger Pfeiler. Wie hat sich dieser Bereich entwickelt?
Das ist wohl der am schnellsten gewachsene Teil unseres Geschäfts. Von Beginn an waren wir überzeugt, dass Privatmärkte, insbesondere in Europa mit grossem Nachholbedarf gegenüber den USA, zu einem zentralen Bestandteil institutioneller und privater Portfolios werden würden. In den letzten zehn Jahren haben wir rund 2 Milliarden Franken über mehrere Fonds investiert; ein grosser Teil davon wurde bereits wieder an die Investoren ausgeschüttet. Dieses Geschäft erfordert Geduld: Institutionelle steigen selten bei einem ersten Fonds ein. Sie warten auf einen überzeugenden Leistungsausweis. Wir begannen deshalb mit privaten Anlegern und haben Schritt für Schritt einen Track Record aufgebaut. Inzwischen lancieren wir Fonds II und III in mehreren Strategien, etwa im spezialisierten Private Credit mit Co-Investments, Secondaries und Tech Lending. Viele institutionelle Investoren, die früher sagten «Melden Sie sich später wieder», kommen jetzt auf uns zu. Die Performance ist stark, und je reifer das Geschäft wird, desto attraktiver werden auch die Erträge, da Carried Interest erst bei abgeschlossenen Fonds realisiert wird. Wenn wir weiter skalieren und liefern, werden die Private Markets für Decalia ein wesentlicher Wachstumstreiber.
«Bei Decalia erhält man ein Mandat, das wirklich massgeschneidert ist – auch bei Volumen, die für Grossbanken zu klein wären.»
Sie haben in Genf Volkswirtschaft und Recht studiert. Aus dieser Perspektive: Was hat sich für Investorinnen und Investoren am meisten verändert?
Als unsere Generation ins Berufsleben eintrat, schien das geopolitische und wirtschaftliche Umfeld stabil. Wir erlebten den Kalten Krieg, dann den Fall der Berliner Mauer und eine «Friedensdividende», in der Kriege in Europa undenkbar schienen. Das transatlantische Bündnis war gesetzt. Diese Stabilität gibt es heute nicht mehr. Sie begann bereits unter der ersten Trump-Administration zu bröckeln und noch stärker unter der zweiten. Die Annahme, Frieden und Freihandel seien dauerhaft, gilt nicht mehr. Wir erleben die Rückkehr der Politik in die Wirtschaft – mit Protektionismus, Industriepolitik und neuen Machtblöcken. Die Welt ist fragmentierter geworden, Mobilität und Handel sind eingeschränkt. Für Unternehmen wie für Anleger bedeutet das: mehr Komplexität, mehr Ungewissheit.
Wie wirkt sich diese Komplexität auf Unternehmen und Kapitalallokation aus?
Vor dreissig Jahren war die Aufgabe eines CEOs einfach: Rendite für die Aktionäre. Heute ist Profitabilität nur noch eines von mehreren Zielen. Man muss auch Reputation, Mitarbeitende, Lieferketten und gesellschaftliche Verantwortung managen. Dasselbe gilt für Investoren: Die regulatorischen und ethischen Anforderungen haben sich vervielfacht. Das macht Führung anspruchsvoller, aber auch spannender.
Und die Geschwindigkeit des Wandels?
Das ist der zweite grosse Unterschied. Alles bewegt sich schneller. Bedenken Sie: Als ich zu arbeiten begann, gab es keine Smartphones. ChatGPT wurde erst vor drei Jahren lanciert und doch verändert die künstliche Intelligenz bereits heute unsere Arbeit und das Investieren. Diese technologische Beschleunigung ist gewaltig, und sie steht erst am Anfang. Sie bringt enorme Umbrüche, Risiken und Chancen. Für Anleger heisst das: Man kann sich nicht mehr auf starre Modelle oder alte Annahmen verlassen. Die Komplexität der heutigen Welt erhöht den Wert professioneller Beratung. In den Märkten zu navigieren, ist heute wirklich ein Vollzeitjob.
«Die Komplexität der heutigen Welt erhöht den Wert professioneller Beratung.»
Sie hatten eine lange Karriere im Schweizer Private Banking – zuerst bei Lombard Odier, später bei Banque Syz. Was nehmen Sie aus dieser Zeit mit?
Lombard Odier war mein erster Job nach der Universität, dort blieb ich etwas über ein Jahr. Bei Banque Syz war ich einige Jahre im Verwaltungsrat, bevor ich zurücktrat, um gemeinsam mit meinem langjährigen Freund Alfredo Piacentini (einem der Mitgründer der Banque Syz) Decalia zu gründen.
Wie wichtig war Ihre grenzüberschreitende Biografie zwischen Italien und der Schweiz für Ihre Laufbahn?
Ich kam mit vierzehn in die Schweiz, besuchte hier die Schule und studierte an der Universität Genf. Danach arbeitete ich in der Finanzbranche, später in New York und in Italien. 2014 kehrte ich zurück, um Decalia zu gründen. Meine Familie wurde während des Zweiten Weltkriegs in der Schweiz aufgenommen, und wir empfinden bis heute eine tiefe Verbundenheit und Dankbarkeit gegenüber diesem Land.
Sie standen fast drei Jahrzehnte an der Spitze der Familienholding CIR und COFIDE, bevor Sie Decalia gründeten. Welche Erfahrungen aus dieser Zeit waren für Sie prägend?
Ich begann in einer Industrieholding, die Kapital vor allem in Mehrheitsbeteiligungen an europäischen Unternehmen investiert. Diese Zeit war eine hervorragende Schule für Kapitalallokation, die Auswahl und Führung von Management, den Kauf und Verkauf von Unternehmen, das Lösen von Problemen und den Umgang mit Kapitalmärkten.
«Unabhängigkeit ist Teil unserer DNA – und sie hat uns sehr gutgetan.»
Was sind die Prioritäten von Decalia in den kommenden zehn Jahren?
Wachstum, aber auf die richtige Art. Als Unternehmer will und muss man wachsen, doch das Tempo ist entscheidend: zu schnell erhöht die Risiken, zu langsam kostet Dynamik und Talente. Unser Ziel ist profitables, kontrolliertes Wachstum mit klarer Fokussierung. Wir haben viele Dinge ausprobiert; jetzt können wir das vertiefen, was funktioniert. Qualität ist nicht verhandelbar. Und weil wir selbst auch investiert sind, bleiben wir diszipliniert.
Bleiben Sie unabhängig?
Unabhängigkeit ist Teil unserer DNA und hat uns sehr gutgetan. Sie ermöglicht schnelle Entscheidungen und schützt vor Bürokratie. Natürlich wächst mit der Grösse auch die Komplexität. Ein Unternehmen mit zehn Personen ist nicht dasselbe wie eines mit siebzig oder zweihundert. Wir schliessen nicht aus, eines Tages einen strategischen Partner zu finden, der uns beim Ausbau der Distribution unterstützt. Aber unser unternehmerischer Geist soll erhalten bleiben.
Wäre eine Banklizenz ein Thema?
Derzeit nicht. Wir werden uns weiterentwickeln, falls es die Kundenbedürfnisse erfordern, aber das ist ein evolutionärer Prozess, keine grundsätzliche Änderung. In zehn Jahren soll Decalia grösser und erfolgreicher sein. Dass das Unternehmen etwas anders aussehen wird, ist unvermeidlich, weil sich die Welt verändert. Doch unseren Werten bleiben wir treu.
Rodolfo De Benedetti, geboren 1961 in Turin, war 2014 Mitgründer und ist seither Partner von Decalia in Genf. Zuvor arbeitete er bei Lombard Odier in Genf und Shearson Lehman in New York und stand fast drei Jahrzehnte an der Spitze der Familienholding CIR Group, wo er von 1995 bis 2013 CEO und seit 2013 Präsident ist. Er verfügt über Abschlüsse in Political Economy und Recht an der Universität Genf.