Geht es nach CEO Gert De Winter, ist Baloise in vier Jahren ein technologiegetriebener Finanzkonzern. Im Interview mit finews.ch erklärt der gebürtige Belgier, was 2021 auf die Assekuranz zukommt – und warum er lieber Fragen stellt, anstatt zu antworten.


Herr De Winter, die Coronakrise hat uns zu Streaming-Junkies gemacht. Wie ist es Ihnen ergangen?

Meine Töchter sind Netflix-Fans. Ich selber komme kaum zum Fernsehen, nach wie vor verbringe ich auch viel Zeit im Büro. Aber sie spielen bestimmt auf unsere neue Konzernstrategie ‹Simply Safe: Season 2 an – das klingt ja sehr nach Serie.

Genau! Es klingt auch nach Repetition. Ist das so gewollt?

Wir bauen weiter auf, was uns die letzten Jahre vorwärts gebracht hat. Deshalb heisst es auch Season 2 und nicht 2.0. Die Basis ist gelegt, nun wollen wir unseren Ansatz in den nächsten vier Jahren beschleunigen und vertiefen.

Führen Sie uns doch durch den Trailer...

Die Philosophie ist sehr einfach, vielleicht sogar naiv: Engagierte, motivierte Mitarbeitende führen zu zufriedenen Kunden und damit zum Erfolg für alle Anspruchsgruppen.

«Das Unternehmen muss doch wissen, wohin die Reise geht»

Darum wollen wir bis 2025 zu den besten 5 Prozent der Arbeitgebern in Europa gehören, 1,5 Millionen neue Kunden gewinnen und 25 Prozent mehr Cash generieren für die Aktionäre. Zudem fokussieren wir uns im Kerngeschäft, diversifizieren in neue Bereiche und transformieren das ganze Unternehmen.

Doch inwiefern sind nach einem Jahr wie diesem Vierjahres-Pläne noch realistisch?

Die Frage höre ich oft. Die strategische Stossrichtung war schon Anfang 2020 gesetzt, also noch vor der Pandemie. Das hat für mich weiterhin Gültigkeit. Klar, man kann die Details nicht planen und man muss flexibel sein. Aber das Unternehmen muss doch wissen, wohin die Reise geht. Das gilt in Zeiten von Corona noch viel mehr als früher, finde ich. Die Krise hat die Strategie gar noch beschleunigt.

Die Corona-Vorkehrungen von Bund und Kantone wechseln beinahe im Wochentakt und sorgen für Verwirrung. Zählt ein neuerlicher europaweiter Lockdown zu den Szenarien von Baloise?

Man muss damit rechnen. Kurzfristig haben wir die Kunden aus dem Homeoffice erreicht, unsere Verantwortung etwa bei Betriebs-Unterbrechungen wahrgenommen und die Risiken abgedeckt. Aufgrund dieser Erfahrungen wird uns die zweite Welle wohl weniger treffen als die erste. Die langfristigen Entwicklungen sind aber noch nicht absehbar, ich sehe diesen mit gemischten Gefühlen entgegen.

Wieso?

Es gab und gibt derzeit viele positive Berichte aus der Wirtschaft. Ich bin da zurückhaltender und nicht besonders optimistisch. Wirtschaftlich haben wir noch nicht alles gesehen.

«Eine Pandemie ist nicht versicherbar»

Die Versicherungsindustrie ist eng an die gesamtwirtschaftliche Lage gebunden. Wenn kleine und mittlere Unternehmen in Bedrängnis kommen, wird sich dies auch auf die Versicherungen auswirken.

Wie lässt sich für Baloise das Geschäft zu Jahresende an?

Das Geschäft im vierten Quartal entwickelt sich ziemlich normal. Wir sehen, dass wegen den eingeschränkten Kontaktmöglichkeiten komplexere Lösungen etwa in der Vorsorge, wo es viel Beratung braucht, schwieriger umzusetzen sind.

Die Assekuranz trägt nicht nur grosse Teile der Pandemie-Kosten, sondern ist wegen teils verweigertem Schadenersatz zum Buhmann geworden. Hat die Branche die Auswirkungen solcher Entscheide unterschätzt?

Für die Mitbewerber kann ich nicht sprechen Aber die Baloise hat wie gesagt ihre Verantwortung wahrgenommen und in den meisten Fällen Zahlungen geleistet. Grundsätzlich gilt aber nach wie vor: eine Pandemie ist nicht versicherbar. Denn Versicherungen funktionieren nach dem Solidarprinzip: Die grosse Menge trägt die Schäden von einigen wenigen.

«Das Kerngeschäft sind Versicherungen – das wird 2030 noch so sein»

Die Coronakrise trifft aber die ganze Welt und hebelt dieses Prinzip aus. In der Folge bieten wir keine Epidemie- oder Pandemie-Versicherungen mehr an. In der Branche wird hingegen ein Corona-Pool diskutiert.

Wann kommt dieser Pool?

Die Vorschläge wurden auf Stufe des Schweizerischen Versicherungsverbands eingebracht und auch mit der Regierung besprochen. Konkret ist aber noch nichts.

Die Pandemie hat das subjektive Gefühl der Unsicherheit verstärkt. Könnte das der Assekuranz am Ende zugute kommen?

In der Coronakrise ist das Risikobewusstsein sicher angestiegen. Ob sich das in mehr Prämien übersetzen lässt, sei mal dahingestellt.

Derweil entfernt sich Baloise immer mehr vom traditionellen Bild des Versicherers. Das Ziel lautet, zu einem technologiegetriebenen Anbieter von Finanzdienstleistungen und wichtigen Akteur innerhalb der Ökosysteme Home und Mobility zu werden. Wird Baloise in vier Jahren noch als Versicherer erkennbar sein?

Das Kerngeschäft sind Versicherungen – das wird auch 2030 noch so sein. Im Banking und im Asset Management wollen wir 10 Milliarden Franken an zusätzlichen Vermögen gewinnen.

«Während Tesla Versicherungen anbietet, expandiert Baloise in Mobilität»

Der dritte und neue Pfeiler sind die Ökosysteme, die aber ebenfalls nahe am Assekuranz-Geschäft sind. Hingegen findet eine Evolution statt…

Wohin?

Das heutige Versicherungsgeschäft ist zu komplex für unsere Kunden, Standardlösungen wie Fahrzeugversicherungen werden zunehmend digital angeboten. Anderseits wird die Beratung durch Menschen etwa in der Vorsorge wichtiger. Diese Balance zwischen digital und persönlich wird uns in den nächsten Jahren beanspruchen.

Werden am Ende nicht doch die grossen Technologie-Konzerne das Rennen machen, indem sie auch noch Versicherungen anbieten?

In Ökosystemen versucht man, Dienstleistungen miteinander zu verknüpfen, um den Kunden das Leben leichter zu machen. Von solchen Ökosystemen werden sich pro Land etwa drei bis maximal zehn durchsetzen. Wir sind hier schon früh eingestiegen und versuchen, uns einen Platz zu sichern. Und über die Verknüpfungen dringen wir unsererseits in neue Sektoren vor. Während Autobauer Tesla also Versicherungen anbietet, expandiert Baloise in Mobilität.

Auch die Banken springen auf den Ökosystem-Gedanken an, Bancassurance kommt wieder in Mode. Raiffeisen spannt mit Mobiliar zusammen, UBS mit Zurich und Credit Suisse mit Axa. Wird Baloise – abgesehen von der konzerneigenen Regionalbank Soba – zum Mauerblümchen?

Wir sind mit unserem Schweizer Modell sehr zufrieden und bauen es organisch aus – alle Bankdienstleistungen sind auch in unseren Agenturen erhältlich. Entsprechend suchen wir keinen neuen Partner. In anderen Ländermärkten fahren wir zudem das Partnerschafts-Modell, in Luxemburg etwa mit der Bank ING und in Belgien mit der Bank van Breda.

Baloise gibt auch viel auf moderne Arbeitsmodelle. Die Digitalisierungs-Abteilung und das Asset Management sind bereits agil, in der IT darf das Team bei Neueinstellungen mitreden. Wann kommt agiles Arbeiten in der Agentur an?

Agilität höre ich als Wort nicht mehr so gerne, weil es inzwischen überall benutzt wird. Der Begriff steht für mich für Orientierung am Kunden, Zusammenarbeit und Transparenz: Das wird bei uns auch auf den Agenturen gelebt.

«Dass wir die Hälfte der Büros schliessen, sehe ich momentan überhaupt nicht»

Im Vertrieb lassen wir den Schweizer Kunden schon jetzt entscheiden, wie er mit uns interagieren will – digital und oder persönlich. In der Schweiz nennen wir diesen Ansatz Multikanal-Strategie. Insofern setzen wir an der Front bereits agile Prinzipien um.

Hat der Zwang zum Home-Office die Transformation der Arbeit bei Baloise aufgehalten oder beschleunigt?

Die Krise wirkte klar als Beschleuniger. Im Lockdown arbeiteten auf einmal 98 Prozent der Mitarbeitenden von zuhause aus. Die Kunden wollten aber trotzdem bedient und die Projekte vorangetrieben sein. Darauf aufbauend sind wir jetzt daran, das Arbeitsmodell der Zukunft zu bauen. Aber wir müssen vor der Lancierung noch das Ende der Krise abwarten.

Warum?

Eine Krise ist keine stabile Lage. Um richtig handeln zu können und keine Fehler zu machen, sollte man wenn möglich eine Normalisierung abwarten. Dann können die definierten Konzepte getestet und evaluiert werden, was am besten funktioniert.

Wie sieht dieses Modell aus?

Wir denken an ein Arbeitsweise, die teils ausserhalb der Büros stattfindet und vor allem durch Eigenverantwortung definiert ist. Prioritär ist dabei ein guter Service für die Kunden, und die Teams müssen funktionieren.

«Heute Abend steht ein Bier mit Gert in meinem Terminkalender»

Gleichzeitig muss das Modell auf individuelle Bedürfnisse Rücksicht nehmen. Wir wollen das verstärken, was wir in den letzten neun Monaten als positiv erlebt haben.

Brauchen Sie künftig weniger Büros?

Dass wir die Hälfte der Büros schliessen würden, das sehe ich momentan überhaupt nicht. Die Krise hat uns nochmals gezeigt, wie wichtig soziale Kontakt ist. Deshalb haben wir so genannte Office-Days organisiert, wo die Mitarbeitenden wieder zusammenfinden und sich persönlich austauschen und brainstormen können.

Was die Arbeit bei Baloise ebenfalls auszeichnet: die Angestellten können mit dem CEO auf ein ‹Bier mit Gert› gehen, auf einen Feierabend-Schoppen mit Ihnen. Was ist daraus in der Coronakrise geworden?

Heute Abend steht ein Bier mit Gert in meinem Terminkalender! Zu Beginn der Coronakrise haben wir die Aktivität natürlich eingestellt, aber in den letzten Monaten sind immer mehr Anfragen von Mitarbeitenden deswegen gekommen. Vor zwei Wochen haben wir erstmals wieder damit angefangen – virtuell mit rund zehn Teilnehmenden. Ich war skeptisch, ob das funktioniert. Aber es hat wunderbar geklappt.

Virtuelles Bier schmeckt auch?

Interessant war ja, dass wir den Anlass immer lokal mit Teams veranstaltet haben – in Basel, Zürich, Lugano, aber auch in Deutschland, Belgien und Luxemburg.

«So gesehen gehen diese Angestellten viel relevantere Themen an als ich»

Auf virtueller Basis können wir nun das Format weiter öffnen, wir hatten letztes Mal plötzlich eine schöne Mischung von deutschen und Schweizer Kollegen. So vernetzt man sich innerhalb der Gruppe. Bemerkenswert ist ja auch, dass das Bier mit Gert eher anekdotisch ist…

Will heissen?

Es ist nur eine von vielen kleinen Massnahmen, die aber in der Summe die Unternehmenskultur verändern. Es wird also eine Vielfalt von kleinen Dingen sein, die uns bis 2025 unter die fünf besten Arbeitgeber im europäischen Finanzwesen aufrücken lassen. Dazu zählen etwa die Abschaffung von individuellen Zielsetzungen zugunsten von Team-Zielen und ein sehr erfolgreicher Schweizer Pilot: Die Mitarbeitenden können 10 Prozent der Arbeitszeit für ihre Weiterbildung einsetzen. Oder vor drei Jahren haben wir die ersten ‹Sparks› eingesetzt.

Sparks?

So nennen wir 300 bis 400 Mitarbeitende innerhalb der Gruppe, die sehr gut vernetzt sind. Sie entwickeln lateral Initiativen, anstatt dass mein Team und ich alles von oben herab dirigieren. Diese Kollegen haben nämlich das beste Gespür dafür, was Baloise anpacken muss. So gesehen gehen sie viel relevantere Themen an als ich.

Schaffen Sie sich da gerade selber ab?

Teilweise. C-Level-Führungskräfte wird es auch in Zukunft brauchen – aber sie werden andere Rollen ausüben. Die Chefs von morgen stellen Fragen, anstatt die Antworten zu geben. Sie denken viel mehr strategisch und intervenieren viel weniger operativ.
Die in Abstimmung mit dem Verwaltungsrat zu leistende strategische Arbeit wird künftig auf 40 Prozent des Pensums ansteigen – von heute etwa 25 Prozent. 30 Prozent sollten Manager der Personalentwicklung und der Kultur widmen, und nur die restlichen 30 Prozent operativ eingreifen.

A propos Bier: zum Silvester gibt es bald wieder Anlass, anzustossen. Haben Sie gute Vorsätze fürs 2021 gefasst?

Darüber muss ich nachdenken, danke für den Hinweis. Als CEO nehme ich mir vor, die Umsetzung unsere Strategie zu begleiten und nach Kräften zu unterstützen.


Gert De Winter ist seit CEO der Baloise Gruppe. Der 54-jährige gebürtige Belgier machte seine ersten Karriereschritte als Berater, wo er bei Accenture in Brüssel zum Partner aufstieg. 2005 trat er als IT- und Personalchef bei der belgischen Baloise-Tochter Mercator ein; von 2009 bis 2015 hatte De Winter als Chief Executive Officer die Leitung der Baloise Insurance inne, die 2011 aus der Zusammenführung der drei Versicherungen Mercator, Nateus und Avero hervorgegangen ist. Neben seinem Amt bei der Baloise ist er Vorstandsmitglied der Handelskammer beider Basel.

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