Der Konkurs der US-Investmentbank Lehman Brothers stehe sinnbildlich für die Finanzkrise. Anleger könnten aus den Phasen der Krise Erkenntnisse gewinnen, schreibt Martin Gilbert exklusiv auf finews.first.


Dieser Beitrag erscheint in der Rubrik finews.first. Darin nehmen Autorinnen und Autoren wöchentlich Stellung zu Wirtschafts- und Finanzthemen. Die Texte erscheinen auf Deutsch und Englisch. Die Auswahl der Texte liegt bei finews.ch.


Die erste Phase begann eigentlich mehr als ein Jahr vor dem Zusammenbruch von Lehman Brothers: Die Blase auf dem US-Immobilienmarkt platzte; die Anleger wurden von Angst ergriffen. An den Kreditmärkten stiegen die Zinsen sprunghaft an. Darauf folgte der Zusammenbruch von Lehman Brothers, die erste Grossbank, die im September 2008 Bankrott machte. Die Probleme im Bankensektor waren nicht mehr tragbar, Panik brach aus, und das gesamte Finanzsystem stand am Rand des Abgrunds. Pessimismus, sogar Depression, lautete das Schlagwort der Anleger.

Die Erholungsphase begann, als Politiker verzweifelt nach Lösungen für das Drama suchten, das von den Finanzmärkten auf die Wirtschaft übergriff. Im März 2009 erreichte der US-Aktienmarkt die Talsohle. Einen Monat später schöpften die Anleger angesichts des Sanierungsprogramms der G20 allmählich wieder Vertrauen.

«Seit März 2009 ist der amerikanische Aktienmarkt-Index um das Dreifache gestiegen»

Viele Elemente in der Erholungsphase und den darauffolgenden Jahren waren positiv, auch die Reaktion der Aufsichtsbehörden. Heute sind Banken in der Regel viel besser kapitalisiert als damals. Das Geschäftsmodell, das auf kurzfristigen Finanzierungen und unverständlichen Produkten beruhte und den Banken letztlich zum Verhängnis wurde, ist grösstenteils verschwunden. Zudem gibt es Anzeichen, dass sich auch die Kultur in den Banken geändert hat.

Riskante Geschäfte sind verpönt. Heute heisst das Motto Vorsicht. Banken verstehen sich nun eher als verantwortungsbewusste Kreditgeber, welche die Wirtschaft unterstützen. Die Vorschriften, die von den Aufsichtsbehörden weltweit verschärft wurden, sorgen dafür, dass Banken jetzt besser in der Lage sind, schwierige Situationen wie die Krise vor zehn Jahren zu meistern.

Skepsis bringt Bullenmärkte zur Blüte, Optimismus lässt sie reifen. Die Erholung der Weltwirtschaft wurde durch die EU-Schuldenkrise verzögert, die wiederum anhaltende Folgen für Staaten wie Griechenland und Italien hatte. Dennoch führten die Massnahmen, die in den schwierigen Jahren nach der Krise getroffen wurden, weltweit zu Wirtschaftswachstum, rückläufiger Arbeitslosigkeit und höheren Unternehmensgewinnen. Seit März 2009 ist der US-Aktienmarkt-Index um das Dreifache gestiegen und der FTSE 100 hat sich mehr als verdoppelt.

«Erkauft wurde die Rettung letztlich mit dem Geld der Steuerzahler»

Einige Aspekte der Ereignisse vor zehn Jahren werfen jedoch nach wie vor lange Schatten. Vor allem untergrub die Krise das Vertrauen, auf dem die westlichen Marktwirtschaften beruhten. Wir haben eine Zeit erlebt, in der man manchen Beobachtern zufolge das Fehlverhalten der Banken sogar belohnte. Erkauft wurde die Rettung letztlich mit dem Geld der Steuerzahler, Haushaltskürzungen, rückläufigem Lohnwachstum und den Ungleichgewichten, die durch die quantitative Lockerung entstanden. Kapitalistische Systeme stützen sich auf die Annahme, dass das Finanzwesen im Interesse aller wirkt. Die Finanzkrise strapazierte diese Beziehung bis zur Grenze der Belastbarkeit. Man hatte den Eindruck, dass der Kapitalismus keine positive Zukunft mehr versprechen konnte.

Die verschiedenen Phasen der Krise erinnern mich an drei wichtige Lehren: Die erste Phase der Krise zeigte deutlich, dass Kniesehnenreflexe die schlimmsten aller Reflexe sind. Anfangs brachte jeder Tag noch schlechtere Nachrichten, mehr Panik und weiter sinkende Aktienkurse. Es war unglaublich schwierig, gegen den Herdentrieb anzukämpfen und zu kaufen, wenn doch alle anderen verkauften. Wer es trotzdem tat, konnte seine Kunden, die ihm ihr Vermögen anvertraut hatten, grosszügig belohnen.

«66 Tage später wurde die Bank verstaatlicht»

Die zweite Lektion lehrt uns, dass es schwierig ist, einmal verlorenes Vertrauen wiederzugewinnen. Die Wiederherstellung des Vertrauens, das die Finanzinstitute in der Krise verwirkt haben, ist eine überaus schwierige Aufgabe, die Jahre oder gar Jahrzehnte dauern dürfte. Man könnte meinen, den Vermögensverwaltern komme in dieser umfassenden systemischen Debatte kaum Bedeutung zu. Aber als Treuhänder sind wir für die finanzielle Zukunft unserer Kunden verantwortlich und haben eine wichtige Rolle zu spielen.

Drittens zeigt die Krise, wie wichtig es ist, die richtigen logischen Verbindungen herzustellen. Im August 2008, als die in Grossbritannien kotierte Royal Bank of Scotland (RBS) ihre Halbjahresergebnisse bekanntgab – einschliesslich eines Abschreibers von 5,9 Milliarden Pfund aufgrund ihres Engagements am gebeutelten US-Hypothekenmarkt – zog der Aktienkurs des Instituts an, weil die Marktteilnehmer dachten, dass nun das Schlimmste überstanden wäre – 66 Tage später wurde die Bank verstaatlicht.

«In Tat und Wahrheit waren zahlreiche Mängel sehr wohl bekannt»

Dass so viele Anleger die Anzeichen, die auf das Ausmass der Krise hindeuteten, nicht erkannten, sollte uns demütig stimmen. Es erinnert uns daran, wie wichtig es ist, Annahmen immer zu überprüfen und zu hinterfragen. Kein Anlageprozess kann jederzeit alle Risiken voraussehen, aber die Kunden sollten sich darauf verlassen können, dass Anlageprozesse so robust wie irgend möglich sind.

Die Krise deckte auch Probleme auf der Ebene der Unternehmensführung auf. Manche Investoren fragen sich, warum solches Missstände übersehen wurden. In Wahrheit waren viele Mängel sehr wohl bekannt, doch die notwendigen Änderungen wurden nicht durchgeführt und die Warnsignale nicht beachtet.

Die Reputation der Vermögensverwalter als Treuhänder der Gelder anderer Menschen hängt davon ab, dass wir Unternehmen, die nicht im Interesse unserer Kunden handeln, klar und deutlich zurechtweisen. Schliesslich ist es unsere Aufgabe, Anlegern beim Aufbau ihrer finanziellen Zukunft zu helfen. Die Verpflichtung, das Richtige für unsere Kunden zu tun, muss immer im Zentrum unseres Handelns stehen. Wenn wir zum Wiederaufbau des Vertrauens beitragen wollen, dann müssen wir uns darauf konzentrieren.


Martin Gilbert ist der CEO von Standard Life Aberdeen, einem Unternehmen, das 2017 aus der Fusion von Standard Life und Aberdeen Asset Management entstanden ist. Gilbert war 1983 Mitgründer von Aberdeen Asset Management.


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