Bei jedem Geschäft sollte man sich stets aller Risiken bewusst sein. Es gehe nicht bloss darum, ein Häkchen in jedes Kästchen einer Checklist zu setzen, sagt Baloise-CEO Gert De Winter im Interview mit finews.ch. Risikomanagement sei keine Compliance-Angelegenheit, sondern eine Kulturfrage.


Herr De Winter, geht die Homeoffice-Ära allmählich zu Ende?

Ich denke schon. Die Leute wollen wieder ins Büro, Kollegen treffen, in den Pausen miteinander Kaffee trinken, plaudern und sich austauschen. Homeoffice war nötig, aber stimmt dieses Arbeitsmodell im hundert Prozent Ansatz langfristig wirklich? Schliesslich vermischt man so auch Arbeit und Privates. Sollte man das nicht eher trennen, oder ist es logisch, dass dies fliessend ineinander übergeht? Ich finde Home- und Office ab und zu auch ein Widerspruch.

Wann denn?

Wenn man gemeinsam von Null auf etwas kreieren soll. Das ist auf rein digitalem Weg schwierig. Da muss man zusammenkommen, gemeinsam nachdenken und «co-kreieren» können. Kultur ist bei uns extrem wichtig, ich sehe in ihr sogar einen Wettbewerbsvorteil ist. Doch wenn man sich nicht mehr trifft, verwässert die Kultur. Bei einem Zoom-Meeting sagt man nur etwas, wenn man gefragt wird oder etwas zu sagen hat. Das reicht nicht.

«Früher galten Pandemien als Science-Fiction-Szenario»

In meinem Führungsteam beispielsweise hatten wir ein kompliziertes Thema zu lösen. Wir sind nicht weitergekommen, weil wir uns physisch nicht gegenüber sassen. Wir konnten unsere Reaktion weniger gut abschätzen. Das war nicht gut. Deshalb wage ich einmal zu behaupten, dass es in Sachen Austausch und Kommunikation eine Kombination geben wird. Aber die Leute wollen sicherlich zunächst auch einmal ins Büro zurück.

Ist mit der Pandemie ein neues Sicherheitsbewusstsein entstanden?

Absolut, das Risikobewusstsein ist gestiegen, früher galten Pandemien als Science-Fiction-Szenario; plötzlich wurde eine Pandemie aber Realität. Aber auch in Sachen Cyber-Risiken sind sich die Unternehmen und Familien der Gefahren mittlerweile mehr bewusst als früher. Insofern hat das Bedürfnis nach Sicherheit enorm zugenommen.

War eine Pandemie bei der Baloise schon früher ein Thema?

Ja, wir haben Pandemien immer als Hoch-Risiko eingestuft, aber die Wahrscheinlichkeit eines solchen Ereignisses eher als tief eingeschätzt. Nun sind wir uns bewusst geworden, dass die Wahrscheinlichkeit viel höher ist.

Warum ist Ihnen als CEO Unternehmenskultur so wichtig?

Unsere Grundphilosophie der «Simply safe» Strategie ist extrem einfach. Unsere 8'000 Mitarbeitenden sind Alpha und Omega; es beginnt bei ihnen und endet mit ihnen. Zufriedene Mitarbeitende schaffen zufriedene Kunden, was wiederum zu Wachstum und Erfolg führt. Deshalb ist Kultur so wichtig.

«Tatsache ist, dass ich zwei Leidenschaften in mir habe»

Wenn unsere Leute am Morgen mit einem Lächeln zur Arbeit kommen, ist die Chance gross, dass sie unseren Kundinnen und Kunden gute Dienstleistungen anbieten. Mich fasziniert das Milizsystem. Viele Menschen engagieren sich mit Leidenschaft in einem Verein; wenn wir diesen Enthusiasmus auch bei der Arbeit wecken können, dann haben wir unser Ziel erreicht. Produkte und Prozesse lassen sich kopieren, Effizienz auch, sogar Innovationen. Aber die Kultur muss man selber schaffen.

Wie passen kulturelle anspruchsvolle Themen, z.B. ein Stellenabbau, zu Ihren hohen Ansprüchen an die Firmenkultur?

Ganz transparent. Das gehört zur Unternehmensführung. Natürlich ist Kultur zunächst einmal der Anspruch, ein Top-Arbeitgeber zu sein. Aber das heisst auch, dass man rational und analytisch fortlaufend prüfen muss, ob es Einsparungsmöglichkeiten gibt. Sparen, effizienter zu werden und zu digitalisieren sind keine Widersprüche zum Anspruch, der beste Arbeitgeber zu sein. Vielmehr gehört es dazu, die Karten offen auf den Tisch zu legen und, wo möglich, noch effizienter zu werden.

Wie sind Sie zu diesen Einsichten gekommen?

Ich weiss es nicht genau, wann und wo sie entstanden sind. Tatsache ist, dass ich stets zwei Leidenschaften in mir hatte: Technik und IT auf der einen Seite sowie Menschen und Kultur auf der anderen. Manche Leute sagen mir manchmal, das sei eine widersprüchliche Kombination: analytisch rational einerseits und persönlich menschlich andererseits.

«Wir wuchsen kaum mehr. Woran lag das?»

Als wir 20214/2015 unsere «Simply safe»-Strategie einführten, stellten wir fest, dass wir operativ zwar exzellent waren, doch wir wuchsen kaum mehr. Woran lag das? Auf der Suche nach einer Antwort hat ein interdisziplinäres Baloise-Team rund 20 Unternehmen im In- und Ausland besucht. Wir wollten herausfinden, was deren Erfolgsgeheimnis war. Am Ende kam heraus, dass alles mit der richtigen Unternehmenskultur steht und fällt – Mitarbeitende, Kunden, Erfolg.

Naiv, aber so logisch. Damit war uns klar, dass auch wir einen Unterschied machen konnten; doch wir mussten selber Hand anlegen. Niemand anders.

Ist das möglicherweise der kulturelle Unterschied zur Bankbranche?

Schwierig zu sagen. Versicherungen müssen extrem langfristig denken. Wir haben Verpflichtungen über 30, 40 Jahre. Wir sind entsprechend fast zwangsläufig nachhaltig orientiert. Bei den Banken spielen die kurzfristigen Bedürfnisse eine viel grössere Rolle.

Ist es nicht auch so, dass die Bankangestellten stärker von finanziellen Anreizen getrieben sind als die Beschäftigten in der Assekuranz?

Möglich. Ich kann natürlich nicht über andere Unternehmen sprechen. Aber ab und zu lese ich in den Medien Dinge, bei denen ich mir sagen muss: «Das kann doch nicht wahr sein.» Von allzu kurzfristigen Gewinnen motiviert zu werden, finde ich ganz gefährlich.

Das scheint das Problem der Credit Suisse gewesen zu sein, wie sich in den vergangenen Monaten gezeigt hat.

Ich kenne die Hintergründe nicht. Wichtig für mich ist, dass Risikomanagement keine Compliance-Angelegenheit ist, sondern eine Kulturfrage.

Das müssen Sie genauer erklären.

Bei jedem Geschäft sollte man sich stets aller Risiken bewusst sein. Man muss sich seines ethischen Handelns bewusst sein. Es geht nicht darum, ein Häkchen in jedes Kästchen einer Checklist zu setzen. Man muss sich der Risiken bewusst sein und erst noch stets im Hinterkopf behalten, dass selbst dann noch einiges schief gehen kann.

«Für die Kunden ist es letztlich irrelevant, ob man Bank oder Versicherung ist»

Bewusst mit Risiken umzugehen, ist für mich Teil der Unternehmenskultur und nicht Teil eines Compliance-Prozesses. Insofern hat die Baloise eine höchst bewusste Risikokultur. Vielleicht ist das bei anderen Unternehmen nicht so stark ausgeprägt, weil man sich allzu sehr auf Prozesse verlässt.

Wenn man sich die kulturellen Unterschiede zwischen Banken und Versicherungen vergegenwärtigt, kann dann Allfinanz überhaupt funktionieren?

Bei uns funktioniert es – mit der Soba Bank, dem Baloise Asset Management und dem Versicherungsgeschäft. Für die Kunden ist es letztlich irrelevant, ob man Bank oder Versicherung ist. Hauptsache man deckt die Themen Sicherheit, Finanzen, Gesundheit, Vorsorge, Vermögen ab. Da sehe ich mit Allfinanz schon einen Vorteil, zumal in unserem Fall alle Unternehmen zum selben Konzern gehören und derselben Kultur nachleben.

Stehen wir am Anfang eines neuen Allfinanz-Trends?

Ich sehe durchaus einen Trend dorthin, weil Versicherungen eine höhere Kontaktfrequenz suchen. Banken sind mit ihrer Klientel kontinuierlicher in Kontakt. Darum investieren wir auch in Ökosysteme.

Wie vollzieht sich in der Versicherungsbranche die Disruption?

Ich glaube nicht so sehr an die Disruption, eher an eine schnelle Evolution. Man hat oft gesagt, Startups würden das Geschäft auf den Kopf stellen. Das glaube ich nicht.

«Das alles haben wir anfänglich etwas unterschätzt»

Vielmehr erleben wir eine perfekte Kombination zwischen traditionellen Unternehmen und Startups. Letztere bringen Leidenschaft, Technologie, Kundenorientierung und Talente – wir unsererseits Erfahrung, Kundenbasis, Marke, Kultur – und Daten! Wenn man das geschickt kombiniert, entsteht eine einzigartige Symbiose.

Müsste die Baloise in ihrem Asset Management nicht noch signifikant wachsen, sprich akquirieren, um die kritische Grösse zu erreichen?

Vor vier Jahren haben wir beschlossen, ins Asset Management für Drittkunden einzusteigen und uns bis Ende 2021 vorgenommen, fünf Milliarden Franken an Kundengeldern zu verwalten. Um erfolgreich zu sein, braucht es Zeit, die richtigen Produkte, Performance, einen guten Vertrieb sowie exzellente Beziehungen zu Pensionskassen. Das alles haben wir anfänglich etwas unterschätzt. Inzwischen sind wir aber gut unterwegs. Deshalb ist unsere Ambition bis 2025 nun, zehn Milliarden Franken anzupeilen.

Die fünf Milliarden haben Sie also erreicht?

Noch nicht, aber wir haben ja noch sechs Monate Zeit dafür.

Im Geschäftsjahr 2020 hat sich der Gewinn der Baloise halbiert. Das war enttäuschend, finden Sie nicht?

Nein, das Resultat war robust.

Trotz Gewinneinbruch?

Wenn man 2019 mit 2020 vergleicht, gibt es drei Einflussfaktoren. Erstens, 2019 konnten wir einen ausserordentlichen Steuereffekt von 150 Millionen Franken verbuchen. Das war 2020 nicht mehr der Fall. Zweitens haben wir 2020 Corona bedingt 180 Millionen Franken an Schäden bezahlt und damit unsere Kundinnen und Kunden in schwierigen Zeiten voll unterstützt. Das sind 10 bis 15 schwere Winterstürme auf einmal. Es war das grösste Schadensereignis in der Geschichte der Baloise.

«Ich finde es nur logisch, etwas zurückhaltender zu sein und die Boni zurückzunehmen»

Drittens kam 2020 die Volatilität an der Börse hinzu. Selbst wenn man konservativ und vorsichtig ist wie wir, fallen bei 60 Milliarden Franken an Kapitalanlagen drei oder vier Prozent Aktien doch ins Gewicht, vor allem wenn man in Europa investiert ist. Der europäische Aktienmarkt-Index schloss Ende 2020 trotz Erholung immer noch 5 Prozent im Minus ab. Insofern würde ich unser Ergebnis als resilient bezeichnen, und strategisch konnten wir uns unglaublich gut entwickeln. Ja, ich bin zufrieden mit dem 2020.

Und das alles, obschon Sie selber weniger verdient haben?

Im Vergleich zu anderen Unternehmen und auch zu vielen Schicksalen in unserem Kundenstamm hatten wir es 2020 relativ gut. Deshalb finde ich es nur logisch, etwas zurückhaltender zu sein und die Boni zurückzunehmen. Man ist nicht alleine auf dieser Welt.

Der US-Vermögensverwalter Blackrock ist der grösste Aktionär der Baloise. Schaut Firmenchef Larry Fink gelegentlich bei Ihnen vorbei?

Leider nicht. Ich habe ihn noch nie getroffen, würde es aber sehr schätzen. Blackrock ist über mehrere Fonds aufsummiert grösster Aktionär bei uns, wie bei vielen anderen SMI-Gesellschaften übrigens auch.

Investieren Sie selber in Baloise-Produkte?

Ja, ich bin ein loyaler Baloise-Kunde.

Etwa mit einer Baloise-Lebensversicherung?

Klar. Versicherungs- wie bankseitig bin ich bei der Baloise.

Was macht eigentlich für Sie den Reiz aus, bei einem Unternehmen wie die Baloise zu arbeiten? Versicherungen gelten doch als etwas Langweiliges.

Das Leben ist ziemlich zufällig. Ich habe Wirtschaftswissenschaften studiert und bin dann beim Beratungsunternehmen Accenture eingestiegen, wo ich Projekte in der Finanzbranche begleitete, unter anderem für Julius Bär und die Credit Suisse. Vor 16 Jahren habe ich dann die Fronten gewechselt und habe bei der Baloise angefangen.

«Ich bin ein sehr loyaler Mensch – seit 30 Jahren mit derselben Frau verheiratet»

Tatsächlich eilt der Assekuranz der Ruf voraus, langweilig zu sein. Doch es gibt wohl kaum eine andere Branche, die so viele verschiedene Jobs anbietet – vom Aktuar, Juristen, über Mathematiker, Schadenexperten, IT Spezialisten und weitere. Darum ist es meiner Meinung nach falsch, wenn man die Versicherungen als langweilig betitelt.

Was gab den Ausschlag, dass Sie in die Versicherungswelt gewechselt haben?

Ich bin ein sehr loyaler Mensch – seit 30 Jahren mit derselben Frau verheiratet, und im gesamten Berufsleben hatte ich bloss zwei Arbeitgeber. Bei Accenture habe ich sehr viel gelernt, so dass es wahrscheinlich die schwierigste Entscheidung meines Lebens war, dort wegzugehen.

Wie kam es so weit?

Wenn man einmal oder zweimal pro Woche aufwacht und denkt, eigentlich habe ich heute keine Lust, arbeiten zu gehen. Dann muss man etwas dagegen unternehmen. So erging es mir in den letzten 18 Monaten bei Accenture.

Weshalb?

Mein Job als Partner hat sich mehr und mehr verschoben in Richtung Verkauf, dabei war ich am liebsten in Projekten engagiert. Ich hatte keine Inhalte mehr, war weg vom Business. Das hat mir keine Freude mehr bereitet.

Diese Erkenntnis war nicht einfach, nach 16 Jahren bei Accenture. Doch in solchen Situationen muss man etwas dagegen unternehmen, sonst macht man seine Familie und seine Freunde unglücklich – und das darf nicht sein.


Gert De Winter ist seit 2016 CEO der Baloise Gruppe. Der 55-jährige Belgier machte seine ersten Karriereschritte 1988 als Berater, wo er bei Accenture in Brüssel zum Partner aufstieg. Im Jahr 2005 trat er als IT- und Personalchef bei der belgischen Baloise-Tochter Mercator ein; von 2009 bis 2015 hatte er als Chief Executive Officer die Leitung der Baloise Insurance inne, die 2011 aus der Zusammenführung der drei Versicherungen Mercator, Nateus und Avero hervorgegangen ist. Neben seinem Amt bei der Baloise ist er Vorstandsmitglied der Handelskammer beider Basel.

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