Eine schüchterne Frage aus dem Publikum, ob der Brexit nicht auch allenfalls Nachteile für die EU bringe, beantwortet er nicht, sondern nimmt sie zum Anlass, um weiter auf die Engländer einzudreschen.

Eine weitere Frage, wie er das gespannte Verhältnis der Schweizer zur EU interpretiere, beantwortet er kurz und schnaubend mit «Ach lassen wir das», um sogleich anzufügen, dass er nun nach Hause müsse. So feinfühlig können Eurokraten sein.

«Man kann die grossen Divergenzen zwischen Juncker und Macron kaum übersehen»

Mitte September hält Jean-Claude Juncker eine Rede zu Europas Zukunft. Auch hier kaum Zerknirschung oder Kritik, sondern vor allem Aufbruchstimmung und ein Aufruf, mit Europa nun vorwärts zu machen. Kurz darauf doppelt Macron mit einem ähnlichen Appel für eine europäische Zukunft nach.

Allerdings kann man die grossen Divergenzen zwischen Juncker und Macron kaum übersehen – in diesen beiden Reden und auch sonst. Juncker entwirft ein Europa unter Führung der bürokratischen Kommission, wo fleissige Beamte die unterschiedlichen Interessen und wirtschaftlichen Situationen der Länder im bürokratischen Feinschliff bis zur Qualität der Fischstäbchen liebevoll koordinieren und harmonisieren.

Demgegenüber sieht Macron ein Europa, das von den Staatschefs (und wohl hauptsächlich von ihm selbst) geführt wird, und mehr holzschnittartig konzentriert er sich auf Schwerpunkte: Gemeinsame Sicherheitspolitik, ein europäisches Budget und dazu einen europäischen Finanzminister sowie eine gemeinsame Handelspolitik.

«Die Nachhaltigkeit eines Reiches zeigt sich an seinen äussersten Polen»

Nachdem ich mit Rom den Ursprung Europas besucht hatte, nahm ich diese Aufbruchstimmung für einmal zum Anlass, den Kontinent mehr an den Rändern zu besuchen: Polen, die Tschechien, Serbien, Kroatien, Nordspanien, England, Österreich, der Osten Deutschlands, Venedig, das Bordeaux waren meine sommerlichen Reiseziele.

Die Nachhaltigkeit eines Reiches zeigt sich an seinen äussersten Polen. Nun sitze ich in einem Haus, das sich an ein steil abfallendes Kliff der Ostküste Irlands anschmiegt. Ophelia hält uns gefangen. Frühmorgens wird der gewaltige, fast tropische Hurrikan an der Westküste Irlands landfällig, rast dann mit zerstörerischer Wucht über die Insel und fällt schliesslich an der Ostküste in ein aufgepeitschtes Wasser. Im Lee des Sturms, in unserem Haus am Kliff, sind wir sicher, dürfen dieses aber nicht verlassen. In den Abendstunden ist der Spuk vorbei.

«Brexit ist hüben und drüben ein Desaster»

Die windverursachte Halbgefangenschaft nehme ich zum Anlass, um etwas über den vergangenen Sommer Europas zu sinnieren: Der europäische Sommer war kurz. Im Herbst wurde der Kontinent von seinen Problemen eingeholt. In den deutschen Wahlen gewann die rechtsradikale AfD mehr Sitze, als man erwartete, und die Kanzlerin ging innenpolitisch erheblich geschwächt daraus hervor; ihre europäische Schlagkraft ist damit eingeschränkt.

In Österreich dominiert mit der FPÖ nun eine Partei, die im Wesentlichen von deutschnationalen Burschenschaften kontrolliert wird. In der Tschechien gewinnt ein weiterer Populist die Wahlen, womit nun fast ganz Osteuropa in den Händen von Nationalisten ist, die weder die Werte Europas noch dessen Aspirationen unterstützen, sondern nur aus finanziellen und sicherheitspolitischen Überlegungen der EU angehören wollen. Brexit ist hüben und drüben ein Desaster. Länder wie Irland und Schottland drohen, im Bruch zwischen dem Vereinigten Königreich und Kontinentaleuropa aufgerieben und schwer beschädigt zu werden.

Das gröbste aller Probleme ist aber Spanien und dessen Umgang mit Katalonien. Dabei handelt es sich nur um die Spitze eines Eisberges. Wie in kaum einem anderen Land klaffen in Spanien politischer Überbau und soziologische Struktur auseinander. Auch nach Schaffung der autonomen Regionen ist Spanien immer noch kein Bundes-, sondern ein Zentralstaat, der mit wenigen Ausnahmen über die Steuerhoheit verfügt. Im Kontrast dazu sieht sich der einzelne Spanier in erster Linie seiner Provinz oder noch mehr seiner Stadt der eigenen Herkunft verbunden; die Regionalität, das Baskische, Asturische, Katalonische, Andalusische definiert die Identität.

«Und manchmal tötet dann der Stier den Torero»

Dazu haben die Spanier in ihrer langen und oftmals blutigen Geschichte eine Neigung zum erbarmungslosen Ausfechten von Konflikten entwickelt, die einzigartig ist. Die Risse in der spanischen Gesellschaft sind mehr als anderswo von Bitterkeit und Hass geprägt. Die Basken hassten die Spanier, die Parteien des Bürgerkrieges bekämpften sich bis aufs Blut, innerhalb des republikanischen Lagers stritten die Kommunisten mit den Anarchisten, so taten es bei den Monarchisten die Karlisten mit den Juanisten. Der Torero tötet den Stier, und manchmal tötet dann der Stier den Torero.

Das differenzierte Lösen von Problemen ist nicht Sache des spanischen Charakters, dem oftmals etwas Herbes anhaftet.
Das wird irgendwie idealtypisch durch den spanischen Premier repräsentiert. Rajoy ist, wie man das in Spanien nennt, vom westgotischen Typ: streng und mönchisch. Und so hat er das Problem mit den Kataloniern angepackt. Er und seine Leute haben sich von Anfang an und konsistent nicht auf politische Argumente verlassen, sondern auf ein rein rechtliches: die spanische Verfassung sehe keine Sezession eines Landesteiles vor, und deshalb sei diese nicht möglich.

Als die Krise eskalierte, wurden wiederum nicht politische Möglichkeiten ausgelotet, sondern einfach das rechtliche Arsenal des staatlichen Gewaltmonopols in Stellung gebracht: Anrufung des Artikels 155 der Verfassung, Absetzung der Regierung, Anordnung von Kuratel und Entsendung einer Statthalterin, schliesslich Anklage und Verhaftungen der separatistischen Spitze, dies ausgeführt von willfährigen und politisch instrumentalisierten Richtern.

«Der kurze europäische Sommer endete mit einer Reihe besorgniserregender Situationen»

Das Vorgehen Rajoys hat die Idee der Demokratie schwer beschädigt, weil er nie ernsthaft in Erwägung zog, einen transparenten Dialog mit den Separatisten zu führen. Es hat auch offensichtlich gemacht, dass Spanien noch immer kein funktionierender Rechtsstaat ist, weil es keine verlässliche Gewaltentrennung gibt und selbst höchste Richter nach der Pfeife der Politiker tanzen. All dies hat die Welt gesehen, weggeschaut hat indessen die EU. Sie hat in der Zwischenzeit zu viele demokratisch und rechtsstaatlich fragwürdige Situationen, um noch angemessen auf solche reagieren zu können.

Der kurze europäische Sommer endete somit mit einer Reihe besorgniserregender Situationen. Der Europareisende erinnert sich an die leichte Brise, die von den Borghesischen Gärten die Via Veneto hinabstrich und die ihn in eine heitere Frühlingsstimmung versetzte. Der Herbst endete in einem fürchterlichen und dunklen Sturm über Irland. Im Sommer ist der Europareisende in einer optimistischen Stimmung aufgebrochen, um die Ränder Europas zu erkunden, im Herbst findet er sich wieder in einer mehr nachdenklichen Stimmung und zieht ein eher negatives Fazit.

«Das ist dann nur noch Fanal oder gar Menetekel»

Erstens kann man nach einer Reise entlang der Ränder Europas feststellen, dass die viel beschworenen gemeinsamen europäischen Werte in der Realität so nicht existieren. Das nationalistische Stammesdenken im Osten, das oftmals mit einer allgemein akzeptierten Korruption einhergeht, ist kaum mit der Idee eines sauberen Rechtsstaates zu vereinbaren, wie sie in Kerneuropa vorherrscht. Religiöser Konservativismus und rigid traditionelles Verhalten, wie wir sie in verschiedenen Ausprägungen in Polen, Spanien und zuweilen auch in Irland sehen, beisst sich mit einer modernen und liberalen Haltung der grossen europäischen Metropolen.

Zweitens sind die Bürger Europas immer noch viel stärker von ihrem unmittelbaren Lebensraum geprägt als von grossen Programmen und Visionen der Eurokraten. Deren Konzepte werden nicht gehört, und manchmal hat man das Gefühl, sie würden immer lebensfremder und verflüchtigen sich als rotierende Hirngespinste in einem fernen Orbit, bis sie sich irgendeinmal ganz auflösen.

Und schliesslich sind die massgebenden europäischen Politiker und Bürokraten immer weniger in der Lage, die anfallenden Probleme zu lösen. Bei komplexen Situationen wie der Griechenlandkrise oder der Flüchtlingssituation war das noch nachvollziehbar. Aber wenn man in einer an und für sich einfach zu beurteilenden Situation wie der flagranten Verletzung von Demokratie und Rechtsstaat in Spanien nicht einmal mehr klare Worte oder der Wille zur Vermittlung findet, dann ist das nur noch Fanal oder gar Menetekel.

«Wir können mit Europa nichts verpassen, aber vieles falsch machen»

In Dublin besuchte ich Sweny’s Pharmacy. Dies ist die berühmte Apotheke, in der James Joyce’s Held im Ulysses seine Lemon Soap einkaufte. Die heutigen Besitzer der Apotheke haben im Schaufenster ein Zitat aus Finnegans Wake aufgehängt: Commit no miracles, postpone no bills. Die Politiker Europas haben das natürlich nie gelesen und leben strikt nach dem Prinzip des Gegenteils, und das ist das zentrale Problem: es wird jedes Wunder versprochen und keine einzige Verpflichtung eingehalten.

Und die Schweiz? Ich würde die gleiche Antwort geben wie der grosse Elmar Brok, wenn auch in einer anderen Tonalität: Ach lassen wir das. Nichts Neues. Bleiben wir beim Teetrinken, wie ich das bereits in einer früheren Kolumne vorschlug. Wir können mit Europa nichts verpassen, aber vieles falsch machen.


Peter Kurer ist Partner der Private-Equity-Firma BLR, Verwaltungsratspräsident des Verlags Kein & Aber und des Telekommunikation-Unternehmens Sunrise sowie Mitglied mehrerer Verwaltungs- und Beiräte.

Er studierte Rechts- und Staatswissenschaften an den Universitäten Zürich und Chicago. Danach erwarb er das Anwaltspatent des Kantons Zürich. 1980 trat er in die Anwaltssozietät Baker & McKenzie ein, wo er 1985 Partner wurde. Im Jahre 1991 gründete er mit sieben Kollegen die Kanzlei Homburger in Zürich. Als Leiter des Bereiches Gesellschaftsrecht betreute er zahlreiche Börsengänge und M&A Transaktionen. Im Jahre 2001 wechselte Kurer als General Counsel (Chefjurist) und Mitglied der Konzernleitung zur UBS, 2008 übernahm er während der Finanzkrise vorübergehend das Präsidium der Bank.


Bisherige Texte von: Rudi Bogni, Oliver Berger, Rolf Banz, Samuel Gerber, Werner Vogt, Walter Wittmann, Alfred Mettler, Robert Holzach, Craig Murray, David Zollinger, Arthur Bolliger, Beat Kappeler, Chris Rowe, Stefan Gerlach, Marc Lussy, Samuel Gerber, Nuno Fernandes, Richard Egger, Dieter Ruloff, Marco Bargel, Steve Hanke, Urs Schoettli, Maurice Pedergnana, Stefan Kreuzkamp, Oliver Bussmann, Michael Benz, Albert Steck, Andreas Britt, Martin Dahinden, Thomas Fedier, Alfred Mettler, Brigitte Strebel, Peter Hody, Mirjam Staub-Bisang, Nicolas Roth, Thorsten Polleit, Kim Iskyan, Stephen Dover, Denise Kenyon-Rouvinez, Christian Dreyer, Peter Kurer, Kinan Khadam-Al-Jame, Werner E. Rutsch, Robert Hemmi, Claude Baumann, Anton Affentranger, Yves Mirabaud, Frédéric Papp, Hans-Martin Kraus, Gérard Guerdat, Didier Saint-Georges, Mario Bassi, Stephen Thariyan, Dan Steinbock, Rino Borini, Bert Flossbach, Michael Hasenstab, Guido Schilling, Werner E. Rutsch, Dorte Bech Vizard, Adriano B. Lucatelli, Katharina Bart, Maya Bhandari, Jean Tirole, Hans Jakob Roth, Marco Martinelli, Beat Wittmann, Thomas Sutter, Tom King, Werner Peyer und Thomas Kupfer

War die Übernahme der Credit Suisse durch die UBS rückblickend gesehen die beste Lösung?
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