Der Populismus wusste aus den Erfahrungen der Krise von 2008 Kapital zu schlagen. Seine langfristigen Auswirkungen sind nicht abschätzbar, schreibt Michel Longhini auf finews.first.


Dieser Beitrag erscheint in der Rubrik finews.first. Darin nehmen Autorinnen und Autoren wöchentlich Stellung zu Wirtschafts- und Finanzthemen. Die Texte erscheinen auf Deutsch und Englisch. Die Auswahl der Texte liegt bei finews.ch.


In diesen Tagen jährt sich der spektakulärste Bankrott aller Zeiten zum zehnten Mal: Am 15. September 2008 meldete die Bank Lehman Brothers, die ein Jahr zuvor durch das Platzen der Subprime-Blase in Not geraten war, Konkurs an. Die Verbindlichkeiten beliefen sich auf 613 Milliarden Dollar. Das Erdbeben, das durch den Zusammenbruch dieses tragenden Pfeilers von Wall Street ausgelöst wurde, führte zu einer fatalen Kettenreaktion: Das Misstrauen breitete sich in der gesamten Finanzbranche aus und riss auch andere prestigeträchtige Konkurrenten in den Abgrund. Die Börsen stürzten ab, der Kreditmarkt fror ein und die Realwirtschaft kam zum Erliegen.

Die Krise griff anschliessend auf die Eurozone über, so dass einige Mitgliedstaaten unter der Schuldenlast zu kollabieren drohten. Die Schockwellen waren weltweit spürbar. «Im September und Oktober 2008 hat sich die schlimmste Finanzkrise der Weltgeschichte abgespielt – selbst wenn man die Grosse Depression (von 1929) hinzuzählt», erklärte der damalige US-Notenbank-Chef Ben Bernanke sogar.

«Die Finanzlandschaft hat sich durch die Regulierungsflut tiefgreifend verändert»

Die Dogmen Systemrelevanz («Too big to fail») und Selbstregulierung der Finanzmärkte zerbröckelten, während durch die Mobilisierung der öffentlichen Hand als «Feuerwehr» der Interventionismus wiederentdeckt wurde. Alle waren sich damals einig, dass eine solche durch Exzesse ausgelöste weltweite Finanzkrise künftig nur vermieden werden könne, wenn die globale Finanzbranche ihre Geschäftspraxis grundlegend überdenkt und der regulatorische Rahmen radikal überarbeitet wird.

So einigten sich die Regierungs- und Staatschefs der zwanzig wichtigsten Länder der Welt an den G20-Gipfeltreffen im April 2009 in London und im September desselben Jahres in Pittsburgh darauf, dass eine umfassende Reform des Finanzsystems und eine bessere internationale Koordination notwendig sind.

Seither sind zehn Jahre vergangen. Zwar sind einige Vorsätze nur gute Absichten geblieben, doch ist nicht von der Hand zu weisen, dass sich die Finanzlandschaft durch die Regulierungsflut tiefgreifend verändert hat. Die Aufsichtsinstanzen setzten an zwei Punkten an: Einerseits verstärkten sie die Aufsicht über die Finanzinstitute, um das Ausfall- und das Ansteckungsrisiko einzudämmen, andererseits verbesserten sie die Transparenz und bauten den Schutz der Investoren aus – namentlich denjenigen der Privatanleger, die zu den Kollateralopfern der Krise gehörten.

«In Europa wird immer noch an der Vollendung der Bankenunion gearbeitet»

Ende 2010 wurde die Rahmenvereinbarung Basel III veröffentlicht, welche die Banken verpflichtet, die Qualität ihrer Eigenmittelausstattung zu verbessern und striktere Liquiditätsstandards zu erfüllen. In den USA wurden mit dem 2010 von Barack Obama unterzeichneten Dodd-Frank-Act insbesondere der Derivatehandel und die spekulativen Anlagen der Investmentbanken reguliert, gleichzeitig aber auch ein besserer Konsumenten- und Gläubigerschutz eingeführt, bevor das Gesetz von Donald Trump teilweise aufgeweicht wurde.

In Europa wiederum wird immer noch an der Vollendung der Bankenunion gearbeitet, die bereits 2014 geschaffen wurde, um die Zuverlässigkeit der Branche zu erhöhen und allfällige Vorfälle zu lösen, ohne dabei auf Steuergelder zurückgreifen zu müssen. Die Richtlinie MiFID II, welche die Finanzdienstleister verpflichtet, ihren Kunden auf deren Risikoprofil abgestimmte Lösungen anzubieten, trat Anfang 2018 in Kraft. Und in der Schweiz verabschiedete das Parlament im Juni dieses Jahres das Finanzdienstleistungs- (Fidleg) und das Finanzinstitutsgesetz (Finig), welche die nationalen Vorschriften mit dem europäischen Recht in Einklang bringen sollen.

«Sämtliche Finanzinstitute sahen ihre Gewinnkapazität gefährdet»

Wenn man bedenkt, dass mit dem Inkrafttreten von Fatca und der Einführung des Gemeinsamen Meldestandards der OECD zum automatischen Informationsaustausch auch noch weltweite Steuertransparenz durchgesetzt wurde, so sind wir heute am Ende eines Prozesses angelangt, der das Bankgeschäft revolutioniert hat. Sämtliche Finanzinstitute sahen angesichts der neuen regulatorischen Vorschriften ihre Gewinnkapazität gefährdet – egal ob sie ihre Rettung letztlich dem Geld der öffentlichen Hand zu verdanken hatten oder auf ihre eigenen Kräfte zählen konnten.

Zur Sicherung ihres Fortbestands mussten die Banken Altlasten abbauen, die neuen Auflagen erfüllen, investieren und alternative Wachstumsquellen erschliessen. Nun, da die Regulierungswelle abgeebbt ist, scheint es, als sei die Anpassung weitgehend abgeschlossen. Auch die Ankündigung der Zentralbanken, ihre unkonventionellen Massnahmen, die sie zur Eindämmung der Auswirkungen der Krise ergriffen hatten, schrittweise zurückzufahren, verstärkt den Eindruck einer gewissen Normalisierung.

«In den Augen zahlreicher Wähler ist das vergangene Jahrzehnt ein verlorenes Jahrzehnt»

Doch es wäre ein Irrtum, daraus zu schliessen, dass sich die Spuren der schwersten Krise des 21. Jahrhunderts endlich verwischen. Einerseits bleibt offen, ob der Patient, der jahrelang am Tropf hing, einen Abbruch der Behandlung verträgt. Andererseits sind einige Wunden aus den Jahren 2007 und 2008 immer noch nicht ganz verheilt. Gemäss «Crashed»*, dem soeben erschienenen Werk des Historikers Adam Tooze über die Jahre nach der Lehman-Pleite, hat die «Grosse Rezession» die internationalen Beziehungen schwer in Mitleidenschaft gezogen und die politischen Gleichgewichte verschoben.

In den Augen zahlreicher Wähler ist das vergangene Jahrzehnt ein verlorenes Jahrzehnt: Nachdem sie zuerst enteignet und dann zur Arbeitslosigkeit verdammt worden waren, mussten sie zusehen, wie ihr Erspartes dahinschmilzt, und haben derweil das Gefühl, einer chronischen wirtschaftlichen Unsicherheit ausgesetzt zu sein.

Der Populismus von links und rechts wusste aus dieser kollektiven Enttäuschung Kapital zu schlagen. Er ist heute in einigen Ländern an der Macht und die Ursache für eine Abkapselung und eine Rückkehr des Protektionismus, deren langfristige Auswirkungen noch nicht abschätzbar sind. Dies ist das letzte vergiftete Vermächtnis der Krise von 2008.

*Crashed: How a Decade of Financial Crises Changed the World, Adam Tooze, Penguin, August 2018


Michel Longhini leitet als CEO das Private Banking der Genfer Union Bancaire Privée und ist Mitglied der Geschäftsleitung. Zuvor stand er in Diensten von BNP Paribas Wealth Management, namentlich von 2004 bis Mitte 2008 als CEO der Privatbank in Asien. Insgesamt blickt er auf mehr als 20 Jahre Erfahrung im Bankwesen zurück. Der Franzose studierte in den 1980er-Jahren an der Lyon Business School, wo er auch sein MBA machte.


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