Die Corona-Pandemie hat zu einem Paradigmenwechsel auf dem Tessiner Finanzplatz geführt: Die im Lockdown erzwungene Rückbesinnung auf die eigenen Grenzen, das Bedürfnis nach mehr Sicherheit und die über Nacht beschleunigte Digitalisierung lassen die Magie des Geldes in neuem Licht erstrahlen. finewsticino.ch trägt dieser Entwicklung ab sofort Rechnung.

Verwundert stellt der Reisende fest, dass die Zugsfahrt von Zürich nach Lugano keine zwei Stunden gedauert hat. Früher ging sie um einiges länger. Doch seit der Eröffnung des Ceneri-Basistunnels im Dezember 2020, hat sich die Fahrtzeit tatsächlich auf eine Stunde und 53 Minuten verkürzt. So nahe waren sich die Deutschschweiz und das Tessin noch nie.

Wenn Zeit im Volksmund Geld sein soll, dann mag diese Beschleunigung auch ein Lichtblick für den Finanzplatz Lugano sein. Denn nachdem die wichtigste Stadt im Tessin jahrzehntelang ausgiebig von ihrer Finanzbranche profitiert hatte, fand diese Erfolgsgeschichte ein abruptes Ende.

Bankgeheimnis faktisch beerdigt

Im Frühjahr 2009 gab die Schweiz dem politischen Druck des Auslands nach und beerdigte faktisch das Bankgeheimnis – dies nur ein Jahr, nachdem Bundesrat Hans-Rudolf Merz noch verkündet hatte, dass sich das Ausland am Schweizer Bankgeheimnis «die Zähne ausbeissen» würde.

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In dieser Situation nutzten die italienischen Behörden die Gunst der Stunde und motivierten mittels Steueramnestien ihre Landsleute dazu, ihr in der Schweiz geparktes Geld zu repatriieren. Der Kapitalrückfluss ins Belpaese war enorm, und das Ende des Tessiner Finanzplatzes schien besiegelt. Die einseitige Abhängigkeit vom Geschäft mit der italienischen Klientel rächte sich.

Paradigmenwechsel im Lockdown

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Mit dem Ausbleiben frischer Geldströme bauten zahlreiche Finanzhäuser ihre Kapazitäten ab, so dass Tausende von Bankangestellten auf der Strasse standen. Und als dann noch 2017 die letzte grosse Bank im Tessin (Bild oben), die Banca della Svizzera Italiana (BSI), im Strudel eines Korruptionsskandals in Singapur ihre Lizenz verlor und in der Konkurrentin EFG International aufging, war der Tiefpunkt erreicht.

Bis vor zwei Jahren hätte kaum jemand angenommen, dass sich an dieser fatalen Entwicklung etwas ändern würde. Doch ausgerechnet die schwierige Zeit der Corona-Pandemie führte zu einem Paradigmenwechsel: Die im Lockdown erzwungene Rückbesinnung auf die eigenen Grenzen verbunden mit dem Bedürfnis nach mehr Sicherheit und mit der über Nacht beschleunigten Digitalisierung verhalfen dem Finanzplatz zu einer Renaissance.

Landesweit anerkannte Kompetenz

Das Tessin als Finanz-Ökosystem bietet genügend Anknüpfungspunkte, um auch in Zukunft hinter Zürich und Genf der drittwichtigste Finanzplatz der Schweiz zu sein. «Zentral ist», sagt Matteo Bosco, langjähriger Kadermann der Credit Suisse und heute Partner bei Conser, einem Analyse-Unternehmen für nachhaltige Anlagen, «dass sich der Cluster, der nun zaghaft, aber kontinuierlich entsteht, tragfähig und nachhaltig wird.»

Bosco verweist in diesem Zusammenhang etwa auf die Università della Svizzera italiana (USI), der es gelungen ist, eine landesweit anerkannte Kompetenz im Bereich «Finance» aufzubauen, während früher die Studentinnen und Studenten nach Zürich oder St. Gallen «abwanderten».

Nachhaltige Finanzen

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Auch das Centro di Studi Bancari (Bild oben) in Vezia bei Lugano ist eine wichtige Anlaufstelle, ebenso die Fachhochschule Scuola universitaria professionale della Svizzera italiana (SUPSI), die neuerdings einen Ausbildungs- und Forschungsfokus auf nachhaltige Finanzen legt. «Alle diese Institutionen tragen dazu bei, neue Kompetenzen zu schmieden – eine wichtige Grundlage für anhaltendes Wachstum», sagt Franco Citterio, Direktor der Associazione Bancaria Ticinese (ABT).

Dass man problemlos an die goldenen Zeiten wieder anknüpfen kann, erwartet indessen niemand. Das Geld wird den Banken auch künftig nicht einfach zufliessen. «Das Geschäft ist sicherlich statischer geworden, was aber generell für die Finanzbranche im Tessin gilt», räumt Philipp Rickenbacher, CEO der Bank Julius Bär, ein, beteuert aber auch, dass ein Rückzug aus dem Tessin, wo das Unternehmen prominent vertreten ist, überhaupt kein Thema sei.

Trügerisches Selbstverständnis verschwunden

Eine nicht geringe Anzahl weiterer Finanzakteure vervollständigen dieses neue Mosaik, darunter Hedgefonds, Private-Equity-Gesellschaften sowie eine Reihe von Firmen, die im Rohstoffhandel tätig sind. Fintechs und die Auseinandersetzung mit der Blockchain-Technologie an wiederkehrenden Veranstaltungen in Lugano helfen zusätzlich, dass sich dieser Cluster eines eigenständigen Finanzplatzes verdichtet.

Solche Initiativen gab es in der Vergangenheit nicht. Das Bankgeschäft schien Gott gegeben. Glücklicherweise ist dieses trügerische Selbstverständnis weg. Man ist sich der angespannten Situation bewusst, und dass es nun ein aktives Engagement braucht, damit der drittgrösste Finanzplatz der Schweiz seine Position verteidigen kann.

Promotoren des Finanzplatzes

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Interessanterweise gehören auch zwei italienische Geldhäuser zu den grössten Promotoren des Finanzplatzes: Vor zwei Jahren übernahm die Banca Generali den Tessiner Vermögensverwalter Valeur Fiduciaria. Beide firmieren heute als BG Valeur (Bild oben) in Lugano und symbolisieren den Neustart. Das Unternehmen hat sich um eine Banklizenz bei der Eidgenössischen Finanzmarktaufsicht (Finma) beworden, und erwartet deren Erhalt 2022, wie in Lugano zu vernehmen ist.  

Zum andern veräusserte vor Jahresfrist die Genfer Bank Reyl 69 Prozent ihrer Anteile an den italienischen Intesa-Konzern, der schon lange eine grössere Präsenz in der Schweiz aufbauen wollte. Dessen Tessiner Tochter Morval wird Anfang 2022 in die Bank Reyl integriert; der Standort in Lugano, wo knapp 90 Personen beschäftigt sind, soll dabei als Dreh- und Angelpunkt für das Geschäft mit italienischen und anderen vermögenden Kundinnen und Kunden dienen.

«Gerade unter dieser Klientel besteht ein grosses Bedürfnis nach Investitionsmöglichkeiten und Finanzierungen, die vor allem Schweizer Banken anbieten können», erklärt Nicolas Duchêne, Partner bei der Bank Reyl, die Relevanz des Standorts Lugano.

Beliebt für Homeoffice

Das Timing für solche Initiativen scheint günstig. Haben Deutsche, Italiener oder Briten in den vergangenen zwanzig Jahren der Schweiz als Wohnsitzland den Rücken gekehrt, ist es nun zu einer Trendwende gekommen. Auslöser dafür ist die Coronakrise, wie auch die Schweizer Grossbank UBS unlängst in einer Studie feststellte.

Die Pandemie habe die Sehnsucht nach einem sicheren Hafen enorm verstärkt. Verzeichnete das Tessin als eine der wenigen Regionen in der Schweiz in den vergangenen Jahren sinkende Immobilienpreise, so hat sich dies nun geändert. «Besonders stark ist das Preiswachstum bei Einfamilienhäusern in Tourismusregionen», stellte unlängst auch Martin Neff, Chefökonom von Raiffeisen Schweiz, fest. Diese Gebiete würden sich in Zeiten von Homeoffice besonders grosser Beliebtheit erfreuen.

Sehnsuchtsort der Deutschen

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Gleichzeitig ist das Risiko von Steuererhöhungen für Top-Verdiener im Ausland aufgrund leerer Staatskassen deutlich gestiegen. Der Regierungswechsel in Deutschland dürfte diese Entwicklung noch beschleunigen. Der Zürcher Rechtsanwalt Enzo Caputo, der ausländische Kundinnen und Kunden bei einem Umzug in die Schweiz berät, erklärte kürzlich, dass er einen Nachfragezuwachs von rund 25 Prozent feststelle – namentlich aus Deutschland, wo das Tessin schon immer als Sehnsuchtsort galt.

Damit der Tessiner Finanzplatz wieder zur vollen Blüte zurückfindet, muss allerdings noch etwas geschehen. Die Schweizer Finanzinstitute brauchen den Marktzugang nach Italien (Bild unten), der ihnen heute verwehrt ist. Grund dafür ist die von der EU 2017 eingeführte Midfid-II-Richtlinie. Diese verbietet es hiesigen Geldhäusern, ohne Zweitniederlassung in Italien aktiv zu sein.

Wirtschaftspolitische Prioritäten

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Dies im Gegensatz zu Deutschland, wo Schweizer Institute eine vereinfachte Freistellung von der deutschen Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Bafin) erlangen können. Für Privatbanken oder unabhängige Vermögensverwalter lohnt sich eine Zweitniederlassung in Italien oftmals rein aus wirtschaftlichen Gründen nicht und entspricht auch nicht ihrem Geschäftsmodell.

Die Rechtslage schliesst bilaterale Abkommen zwischen der Schweiz und einzelnen EU-Mitgliedstaaten nicht aus. Diese müssen jedoch auf einer gegenseitigen Anerkennung beruhen. Italien stemmt sich aber gegen solche Regelungen mit Drittland-Banken und pocht aus wirtschaftspolitischen Überlegungen darauf, die (heimische) Kundschaft im Inland zu bedienen – weil dies Arbeitsplätze und Steuereinnahmen garantiert.

Daraus folgert der Bundesrat: «Den Szenarien und Strategien auf Schweizer Seite sind sehr enge Grenzen gesetzt.» Umso mehr ist das Tessin auf sich selbst angewiesen.


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