Über die Wirkungsweise negativer Zinsen auf das menschliche Verhalten ist wenig bekannt. Die aktuelle Geldpolitik bleibt deshalb ein riskantes Experiment, schreibt Teodoro Cocca in seinem exklusiven Beitrag für finews.first.


Dieser Beitrag erscheint in der Rubrik finews.first. Darin nehmen Autorinnen und Autoren wöchentlich Stellung zu Wirtschafts- und Finanzthemen.


In diesen Tagen hat Christine Lagarde die Führung der Europäischen Zentralbank (EZB) übernommen. Gleichzeitig mit der personellen Neubesetzung wird zurzeit die Frage, wann die Grenze zwischen Nutzen und Schaden der unkonventionellen Notenbankpolitik erreicht ist, kontrovers debattiert.

Mit der anrollenden globalen Konjunkturschwäche könnten die Zinsen noch weitere in den negativen Bereich rutschen. Es stellt sich die Frage, was wir eigentlich an erhärtetem Wissen bezüglich der mittel- bis langfristigen Wirkungen von negativen Zinsen auf das Entscheidungsverhalten von Individuen besitzen?

«Auch in Japan sind negative nominelle Zinsen ein ganz neues Phänomen»

Alles was wirtschaftswissenschaftlich dazu erforscht wurde, basiert auf theoretische Modellüberlegungen, wenig robuste empirische Daten oder bestenfalls auf induktive Schlüsse, bei denen von mehr oder weniger vergleichbaren historischen Einzelbeobachtungen auf das Allgemeine geschlossen wird. Für gewöhnlich wird etwa Japan ins Feld geführt, das seit über 20 Jahren ultra-tiefe Zinsen kennt.

Doch auch in Japan sind negative nominelle Zinsen ein neues Phänomen. Auch die Schweiz mit ihrer Vorreiterrolle in der Festsetzung negativer Leitzinsen wird jeweils als positives Beispiel herangezogen. Doch vergisst man gelegentlich dabei, dass die negativen Leitzinsen der Schweiz in keiner Weise mit denjenigen der Eurozone vergleichbar sind.

Die Schweiz versucht durch negative Zinsen der Aufwertung der eigenen Währung entgegenzuwirken, während in der Eurozone die Zielsetzung gewissermassen genau umgekehrt ist: Kapital fliesst definitiv nicht im Überfluss in den Euroraum, da zuerst das Wachstum angekurbelt werden müsste. Die Schweiz ist somit kaum das geeignete Beispiel, um die tatsächliche Wirkung negativer Zinsen auf den bedeutend grösseren Euroraum abzuleiten.

«Dieser jemand ist der Sparer»

Wenn ein dermassen zentraler Preis wie der Zins sein Vorzeichen wechselt, dann stellen sich fundamentale Fragen. In ökonomischen Lehrbüchern wird der Zins bei genauerer Betrachtung nicht etwa als Preis des Geldes, sondern als Preis für die Zeit betrachtet. Man spricht in diesem Zusammenhang von der Zeitpräferenz der Individuen, welche sehr stark psychologisch beeinflusst wird.

Um investieren zu können, muss irgendjemand eine Zeitlang auf ansonsten möglichen Konsum verzichten und der Anreiz und die Belohnung dafür ist eben der Zins. Dieser jemand ist der Sparer. Diese Erklärung der «temporalen Kapitaltheorie» für den Zinssatz ist auch heute noch gültig - wird von Notenbanken aber wenig beachtet. Wenn der Zins negativ ist, bedeutet dies, dass Individuen eigentlich lieber später konsumieren als heute.

«Sparen wird entmutigt, Konsum gefördert, die Zukunft wird gewissermassen heute verbraucht»

Dies war zum Beispiel gemäss Ludwig von Mises (österreichisch-amerikanischer Wirtschaftswissenschaftler, 1881-1973) völlig undenkbar, weil es gegen jegliches Axiom menschlichen Verhaltens verstosse. Die erwartbaren Schäden, die ein Negativzins anrichtet, werden zurzeit vor allem im Zusammenhang mit folgenden Themen artikuliert: Sparen wird entmutigt, Konsum gefördert, die Zukunft wird gewissermassen heute verbraucht; Wirtschaften auf Pump wird gefördert, Unternehmen werden zu Fehlinvestitionen verleitet, politische Reformen werden entmutigt; das Geldvermögen wird entwertet, die Altersvorsorge zerstört.

Nun, was ist all dem gemeinsam? Der Wert der Zeit nimmt ab - die Zukunft verliert gegenüber der Gegenwart an Wert. Diese Erkenntnis scheint verblüffend symptomatisch für auch andere aktuelle Themen zu sein (Stichwort: Klimawandel). Man fühlt sich unweigerlich an Momo erinnert, der Figur im gleichnamigen Roman von Michael Ende, welche von glatzköpfigen Agenten der «Zeitsparkasse» verfolgt wird, welche die Zeit – also die Zukunft – stehlen möchten. Ein negativer Zins bringt das Fundament der Marktwirtschaft ziemlich durcheinander.

«Der EZB wird nicht mehr viel zugetraut»

Wenn zudem unter Null gefallene Zinsen nicht mehr die Kreditnachfrage erhöhen, sondern zunehmend als warnendes Omen einer aus den Fugen geratenen Welt betrachtet werden, dann haben sie plötzlich eine gegenteilige Wirkung. Ein Negativzins ist vernunftwidrig, auch wenn dies noch nicht alle so artikulieren können.

Da Notenbankenpolitik keine mathematische Disziplin ist, sondern das Verhalten von Menschen in der realen Welt beeinflusst, ist die wahrgenommene Botschaft der Notenbankpolitik zentral. Die erstmals überwiegend kritischen Reaktionen auf den jüngsten EZB-Entscheid deuten darauf hin, dass der Notenbank nicht mehr viel zugetraut wird.

Damit bewegt sich die EZB in eine neue Phase, in der die Sinnhaftigkeit von negativen Zinsen – um die Sprache der Notenbanken zu verwenden – «nicht mehr ausreichend verankert» ist. Damit würden die negativen Zinsen prozyklisch wirken und über einen Kreislauf aus Unsicherheit und Verstörung die Nachfrageschwäche verstärken anstatt ihr entgegenzuwirken.

«Für Notenbanken steht mehr auf dem Spiel als nur die Frage nach dem richtigen nächsten Zinsschritt»

Notenbanken agieren historisch als Institutionen, welche im Hintergrund für Stabilität sorgen und durch ihre Expertise, Übersicht und Kenntnis der komplexen Zusammenhänge der Geldwirtschaft ihr Handeln legitimieren.

Wenn die Wahrnehmung sich verstärkt, destabilisierender Teil des Problems und nicht deren Lösung zu sein, steht für Notenbanken mehr auf dem Spiel als nur die Frage nach dem richtigen nächsten Zinsschritt.


Teodoro D. Cocca ist seit 2006 Professor für Asset und Wealth Management an der Johannes Kepler Universität Linz. Davor war er einige Jahre bei der Citibank sowohl im Investment als auch im Private Banking tätig, forschte an der Stern School of Business in New York und lehrte am Swiss Banking Institute in Zürich. Zudem ist der Schweizer mit italienischen Wurzeln assoziierter Professor für Private Banking am Swiss Finance Institute (SFI) in Zürich und beratend für Finanzunternehmen und Behörden im In- und Ausland tätig. Seit April 2011 ist er Mitglied des Verwaltungsrats der VP Bank in Vaduz und leitet dort den Strategie- und Digitalisierungsausschuss.


Bisherige Texte von: Rudi BogniOliver BergerRolf BanzWerner VogtWalter WittmannAlfred Mettler, Robert HolzachCraig MurrayDavid ZollingerArthur BolligerBeat KappelerChris RoweStefan GerlachMarc Lussy, Nuno FernandesRichard EggerDieter RuloffMarco BargelSteve HankeUrs Schoettli, Maurice PedergnanaStefan Kreuzkamp, Oliver BussmannMichael BenzAlbert Steck, Martin DahindenThomas FedierAlfred MettlerBrigitte Strebel, Mirjam Staub-Bisang, Thorsten PolleitKim IskyanStephen DoverDenise Kenyon-RouvinezChristian DreyerKinan Khadam-Al-JameRobert HemmiAnton AffentrangerYves Mirabaud, Hans-Martin KrausGérard Guerdat, Mario BassiStephen ThariyanDan SteinbockRino BoriniBert FlossbachMichael HasenstabGuido SchillingWerner E. RutschDorte Bech VizardAdriano B. LucatelliKatharina BartMaya BhandariJean TiroleHans Jakob RothMarco Martinelli, Thomas Sutter, Tom King, Werner PeyerThomas KupferPeter Kurer, Arturo Bris, Frédéric Papp, James Syme, Dennis Larsen, Bernd Kramer, Ralph Ebert, Marionna Wegenstein, Armin JansNicolas Roth, Hans Ulrich Jost, Patrick Hunger, Fabrizio QuirighettiClaire Shaw, Peter FanconiAlex Wolf, Dan Steinbock, Patrick Scheurle, Sandro Occhilupo, Will Ballard, Michael Bornhäusser, Nicholas Yeo, Claude-Alain Margelisch, Jean-François Hirschel, Jens Pongratz, Samuel Gerber, Philipp Weckherlin, Anne Richards, Antoni Trenchev, Benoit Barbereau, Pascal R. Bersier, Shaul Lifshitz, Ana Botín, Martin Gilbert, Jesper Koll, Ingo Rauser, Carlo Capaul, Claude Baumann, Markus Winkler, Konrad Hummler, Thomas Steinemann, Christina Böck, Guillaume Compeyron, Miro Zivkovic, Alexander F. Wagner, Eric Heymann, Christoph Sax, Felix Brem, Jochen Möbert, Jacques-Aurélien Marcireau, Peter Hody, Ursula Finsterwald, Claudia Kraaz, Michel Longhini, Stefan Blum, Zsolt Kohalmi, Karin M. Klossek, Nicolas Ramelet, Søren Bjønness, Lamara von Albertini, Andreas Britt, Gilles Prince, Fabrizio Pagani, Darren Williams, Shanu Hinduja, Salman Ahmed, Stéphane Monier, Peter van der Welle, Swetha Ramachandran, Beat Wittmann, Ken Orchard, Michael Welti, Christian Gast, Didier Saint-Georges, Jürgen Braunstein, Jeffrey Vögeli, Gérard Piasko, Fiona Frick, Jean Keller, Teodoro Cocca, Stefan Schneider, Lars Jaeger, Matthias Hunn und Andreas Vetsch.

Welche Schweizer Privatbank bietet an der Börse nun das grösste Potenzial?
Welche Schweizer Privatbank bietet an der Börse nun das grösste Potenzial?
  • Julius Bär, weil der Kurs seit dem Signa-Debakel genügend gesunken ist.
    20.21%
  • Vontobel, weil das Unternehmen 2024 die Wende im Asset Management schaffen wird.
    8.75%
  • EFG International, weil die Bank keinerlei interne Probleme bekundet und stark wächst.
    14.92%
  • UBS, weil die Grossbank auch als Privatbank enormes Potenzial bietet.
    46.47%
  • Banque Cantonale Vaudoise, weil sie unter den Kantonalbanken ein grosses Private Banking anbietet.
    9.65%
pixel