Angesichts der jüngsten Entwicklung in der schweizerischen Geldpolitik fragt sich Jean Keller auf finews.first: Sind wir so reich, dass wir es uns erlauben können, unsere Ersparnisse zu vernichten, um einer Ideologie vergangener Zeiten zu huldigen?


Dieser Beitrag erscheint in der Rubrik finews.first. Darin nehmen Autorinnen und Autoren wöchentlich Stellung zu Wirtschafts- und Finanzthemen.


Vielleicht renne ich damit offene Türen ein, aber es ist festzustellen, dass uns die expansive Geldpolitik der letzten Jahre in eine Sackgasse geführt hat. Das «Quantitative Easing» hat zwar mit Sicherheit dazu beigetragen, Europa vor einer Wirtschaftskatastrophe zu bewahren, aber man muss wohl auch zugeben, dass die Grenzen des Modells erreicht sind, und dass nun dringend neue Instrumente der Konjunkturpolitik gefunden werden müssen, um den vor sich hin dümpelnden Konsum auf dem Alten Kontinent zu beleben.

Vor diesem Hintergrund war im Sommer die Problematik der Negativzinsen immer wieder ein Thema, und beim jüngsten Treffen der Zentralbanker in Jackson Hole standen erneut geldpolitische Fragen im Vordergrund. Die Stimmen mehren sich, die auf die Unzulänglichkeiten einer extrem entgegenkommenden Geldpolitik als einzigem Instrument zur Vermeidung einer «Japanisierung» unserer Volkswirtschaften mit einer langwierigen Stagnation und Deflation hinweisen.

«Mehrere Aspekte der Debatte sind überraschend»

Dies gilt umso mehr in der Schweiz, da unser Land unter dem Fluchtwerteffekt des Franken leidet, der unsere Währung steigen lässt. So ist Schweizerische Nationalbank (SNB) gezwungen, ihre Anstrengungen zu verdoppeln, um ihn zu schwächen und unseren arg mitgenommenen Exporten etwas Luft zu verschaffen.

Mehrere Aspekte der laufenden Debatte sind überraschend und verdienen eine genauere Betrachtung. Zuallererst sei hervorgehoben, dass die astronomischen Mengen an Geld, die ins Bankensystem gepumpt wurden, nicht zu einer echten Erholung geführt haben, obwohl diese eigentlich infolge der Lockerung der monetären Bedingungen hätte eintreten müssen.

Die Theorie besagt nämlich, dass der Zustrom von liquiden Mitteln in die Banken das Kreditgeschäft und somit die Investitionsnachfrage dank niedrigerer Zinsen begünstigt. In Wirklichkeit aber bleiben die liquiden Mittel seit 2011 tendenziell eher im Finanzsystem. Sie konnten daher die Investitionstätigkeit nicht beleben und uns somit nicht aus der Stagnation führen.

«Banken sind sehr schlecht darauf vorbereitet, eine Dienstleistungswirtschaft mit Krediten zu versorgen»

Der Geldstrom hat vielmehr die Nachfrage nach Finanzanlagen unterstützt und kam so den Reichsten zugute, die allein die Mittel haben, ihr Geld anzulegen. Das billige Geld hat also die breiteren Bevölkerungsschichten nicht erreicht und somit die Ungleichheiten verstärkt, was den Populisten in die Karten spielte.

Der Grund für diese Entwicklung liegt in einer wichtigen Veränderung der Struktur unserer Volkswirtschaften. In Zeiten, in denen der durchschlagende Geschäftserfolg von Facebook, Google und dergleichen keine grossen Kapitalinvestitionen mehr benötigt, spielt der Bankkredit in einer Wirtschaft des Wissens und der Kompetenzen teilweise nur noch eine untergeordnete Rolle. Darüber hinaus sind die Banken sehr schlecht darauf vorbereitet, eine Dienstleistungswirtschaft mit Krediten zu versorgen. Darin fällt nämlich die Darlehensabsicherung schwerer als mit einer Maschine oder einer Fabrikanlage.

«Die schlimmste Folge war die Vernichtung der kollektiven Ersparnisse durch die Negativzinsen»

Im Übrigen haben die verschärften Risikovorschriften die Fähigkeit der Kreditinstitute erheblich eingeschränkt, der Wirtschaft Kredite zu gewähren. Die geltenden Bestimmungen über Eigenmittel haben sich nämlich als eine regelrechte Bremse für die Transmission der Geldpolitik der Zentralbanken auf die reale Wirtschaft erwiesen.

Wie zu erwarten, erheben sich nun zahlreiche Stimmen und verlangen eine Überprüfung verschiedener Aspekte unserer konjunkturpolitischen Massnahmen. Als Erstes wird dabei selbstverständlich unsere Abneigung gegenüber jeglicher Form von haushaltspolitischen Ankurbelungsmassnahmen in Frage gestellt.

Immerhin hat sich die von konservativer Seite mit Nachdruck verlangte Austerität nicht als das erwartete Wundermittel erwiesen, obwohl sie gewissen ultraliberalen Wirtschaftskreisen zustatten kam, die ihre Freude daran hatten, die Sozialdemokratie abzuwürgen. Zum Preis enormer Opfer der schwächsten Bevölkerungsgruppen konnten einige Länder wie Spanien und Portugal zwar ihre Wirtschaft umstrukturieren. Aber das Ergebnis war eine tiefe politische Enttäuschung, die uns noch teuer zu stehen kommen wird.

Aber die schlimmste Folge war die Vernichtung der kollektiven Ersparnisse durch die Negativzinsen und die schlechte Berücksichtigung des Risikos an den Anleihenmärkten. Es sei daran erinnert, dass der Bund (aber Gleiches gilt auch für andere europäische Länder) heute praktisch für eine Dauer von fast 50 Jahren Geld zu Negativzinsen aufnehmen kann.

«Warum also nicht diese Ineffizienz der Märkte nutzen und massenhaft Geld aufnehmen?»

Wie absurd das ist, wird deutlich, wenn man bedenkt, dass ein ganz normaler Anleger heute über seine Pensionskasse 216 Franken für eine Obligation der Eidgenossenschaft zahlt, für die er im Jahr 2045 lediglich 100 Franken zurückbekommt! Warum also nicht diese Ineffizienz der Märkte nutzen und massenhaft Geld aufnehmen, um in die Energiewende oder die Ausbildung zu investieren?

Warum Jahr für Jahr mit der Präzision einer (Schweizer) Uhr Haushaltsüberschüsse ausweisen, während uns dank der irrationalen Folgen einer aus dem Ruder laufenden Geldpolitik günstiges Geld angeboten wird? Sind wir so reich, dass wir es uns erlauben können, unsere Ersparnisse zu vernichten, um einer Ideologie vergangener Zeiten zu huldigen?

«Obwohl eindeutig die Zeit der Hinterfragung gekommen ist, spricht keine Zentralbank von Kurswechsel»

Wäre es nicht an der Zeit, andere geldpolitische Instrumente einzusetzen, die bisher ungenutzt blieben? So wurde etwa der frühere Präsident der Federal Reserve Ben Bernanke vor seinem Amtsantritt bekannt durch einen berühmten Artikel über das «Helikoptergeld», eine Direktverteilung von Geld an die Konsumenten. Und doch, obwohl eindeutig die Zeit der Hinterfragung gekommen ist, spricht keine Zentralbank von Kurswechsel, und wir steuern einmal mehr auf eine allgemeine Zinssenkung weltweit zu.

Angeblich sagte Albert Einstein, dass es ein Beweis für Verrücktheit sei, wenn man immer wieder das Gleiche tue und andere Ergebnisse erwarte. Während also das dringendste Problem unserer Wirtschaft ganz klar die Vernichtung unserer Ersparnisse durch allgemein negative Zinsen sowie die Stärke unserer Währung ist, wäre es da nicht an der Zeit, den Mut aufzubringen, mit anderen Methoden zu experimentieren, die es gibt und die von immer mehr Ökonomen befürwortet werden? Jenen, die davor warnen, Zauberlehrling zu spielen, sei gesagt, dass wir mit unserem enormen Glaubwürdigkeitsüberschuss doch in der idealen Lage sind, neue, etwas originellere Wege auszuprobieren!


Jean Keller stiess 2011 als CEO und Partner zum Genfer Vermögensverwalter Quaero Capital. Zuvor war er CEO von 3A (Alternative Asset Advisors), einer alternativen Anlageabteilung der Schweizer Bankengruppe Syz. Vor seinem Eintritt bei Syz war Keller elf Jahre lang in verschiedenen Funktionen innerhalb der Lombard Odier Darier Hentsch (LODH) Gruppe in Genf, New York und London tätig, wo sein Vater als Partner tätig war. Von 2002 bis 2004 war er CEO der LODH Asset Management in London und Mitglied der Geschäftsleitung der Gruppe. Er leitete auch die institutionelle Vermögensverwaltung von LODH und war Mitglied des Asset Management Board. Sein Bruder ist Hubert Keller, ein Partner bei Lombard Odier.


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