In der Vergangenheit galt die Europawahl eher als eine Befragung zur Popularität der EU-Mitgliedsregierungen denn als reales Votum über die Zukunft der EU. Nicht so in diesem Jahr, schreibt Fabrizio Pagani in seinem Essay für finews.first.


Dieser Beitrag erscheint in der Rubrik finews.first. Darin nehmen Autorinnen und Autoren wöchentlich Stellung zu Wirtschafts- und Finanzthemen. Die Auswahl der Texte liegt bei finews.ch.


Erstmals findet europaweit eine echte Debatte über Europa und seine Ausrichtung statt. Nachfolgend eine anekdotische, aber aufschlussreiche Begebenheit: Noch nie zuvor hat sich ein europäischer Staats- oder Regierungschef in einer direkten Ansprache nicht nur an die Wähler seines Landes, sondern an die Bürgerinnen und Bürger in ganz Europa gerichtet.

Gemeint ist ein Brief des französischen Präsidenten Emmanuel Macron an die europäischen Bürger vom 4. März 2019, in dem er einen Plan für einen Neubeginn in Europa vorstellt. Der erste Satz lautet: «Bürgerinnen und Bürger Europas, wenn ich mir heute erlaube, mich direkt an Sie zu wenden...». Der Brief wurde in 22 Sprachen übersetzt.

Noch nie gab es aus meiner Sicht so viel gegenseitige Beeinflussung von nationaler Politik und europäischen Themen in einem Wahlkampf. Parteien aus unterschiedlichen Ländern positionieren sich gegenüber den Fraktionen im Europäischen Parlament, und nationale Spitzenpolitiker befassen sich damit im Wahlkampf. Neue Allianzen werden angestrebt, und eine gewichtige Neuausrichtung in der Politik des Europäischen Parlaments ist geplant. Diese Themen wurden vor kurzem offen von Ungarns Premierminister Victor Orbán und Italiens Vizepremierminister Matteo Salvini in einer Pressekonferenz in Budapest diskutiert.

«Diese neue Aufmerksamkeit gegenüber der Politik in Europa ist den jüngsten Entwicklungen geschuldet»

Nationale Parlamentswahlen – selbst in kleineren Ländern wie der Slowakei oder Finnland, bei Teilwahlen in einigen Regionen Süditaliens oder Kommunalwahlen in England – erhalten europaweite Aufmerksamkeit, die neue Dimensionen erreicht. Als ob die Zukunft des Kontinents vom Zerlegen und neuen Zusammenfügen all dieser beweglichen Teile dort abhinge. Die Bestätigungen bestimmter und nicht anderer Parteien werden in ganz Europa als Anzeichen für den Anstieg respektive Rückgang der Europaskepsis betrachtet.

Diese neue Aufmerksamkeit gegenüber der Politik in Europa ist den jüngsten Entwicklungen wie dem Brexit und dem Anstieg des Populismus in den meisten europäischen Ländern geschuldet. Durch den Brexit verliert die Union eines ihrer wichtigsten Mitgliedsländer, und der wachsende Populismus ist gefärbt von Europaskepsis in unterschiedlicher Ausprägung. Die Auswirkungen dieser Kombination erschüttern die Europäische Union (EU) bis ins Mark.

«In diesem Jahr werden die Schlüsselpositionen in der EU neu besetzt»

Das europäische Projekt steht offenbar vor einer neuen Legitimationskrise. Für viele normale Bürger scheint es nicht mehr klar zu sein, warum die EU geschaffen wurde und insbesondere warum «mehr Europa» notwendig wäre. Die diesjährige Wahl wird von vielen Menschen als Gelegenheit wahrgenommen, sich vielleicht zum ersten Mal mit diesem Thema zu beschäftigen. Jetzt ist es an den Pro-Europa-Parteien, zu erklären, warum mehr Integration notwendig ist. Demgegenüber stehen die Bewegungen der Souveränisten, die ihre Vision eines «anderen Europas» respektive von «weniger Europa» präsentieren und den Weg dorthin erläutern müssen.

Dieses Jahr werden die Schlüsselpositionen in der EU neu besetzt. Nicht nur der Präsident des Europäischen Parlaments, der Kommission und des Rates werden neu ernannt, sondern auch der Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB). Die Märkte werden diese Ernennungen genau beobachten und mit besonderem Interesse das Rennen um die Nachfolge von Mario Draghi verfolgen, der acht Jahre an der Spitze der EZB stand. Während das Europäische Parlament keinen grossen Einfluss auf die Ernennung des EZB-Präsidenten hat, könnte die Europawahl ausschlaggebend für die Entscheidung der EU-Verantwortlichen sein.

«Dies ist allerdings nur ein Gedankenspiel»

Die Besetzung der europäischen Spitzenämter gleicht einem unübersichtlichen Puzzle, in dem politische Zugehörigkeit – für gewöhnlich zu einer der grossen politischen Parteien –, Nationalitäten-Mix und politische Erfahrung allesamt eine Rolle spielen. Das EZB-Direktorium wird von diesem Puzzlespiel nur teilweise verschont, denn bei allen Entscheidungen spielt ein ausgewogener Nationalitäten-Mix eine wichtige Rolle, insbesondere wenn bei einigen Posten die Entscheidung schon gefallen ist.

Wenn beispielsweise, was uns sehr wahrscheinlich erscheint, die Europäische Volkspartei die meisten Sitze im Parlament holt und am Prinzip des Spitzenkandidaten festgehalten wird, dürfte der Deutsche Manfred Weber neuer Kommissionspräsident werden. In diesem Falle sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass auch das Amt des EZB-Präsidenten mit einem Deutschen besetzt wird.

Dies ist allerdings nur ein Gedankenspiel, und noch gibt es viel zu viele Unbekannte in dieser sehr komplexen politischen Gleichung, um bedeutungsvolle Vorhersagen zu treffen. Die Wahlergebnisse werden erste Indizien liefern, aber erst die Verhandlungen an der Tagung des Europäischen Rates vom 20. und 21. Juni 2019 werden darüber entscheiden, wer das Spitzenamt bei der Kommission bzw. bei der Zentralbank besetzen wird.

Die EU ist der weltweit grösste Wirtschaftsraum und ihre Wirtschaftspolitik hat enorme Auswirkungen auf die Märkte. Allerdings kommt dem Europäischen Parlament nur eine untergeordnete Rolle zu. In der Geldpolitik hat es nichts zu sagen, weil die EZB auf diesem Gebiet «souverän» und unabhängig ist. Gleiches gilt für die Haushaltspolitik des Euroraums. Sie wird vom «Wachstums- und Stabilitätspakt» geregelt, der von den Mitgliedsländern geschlossen wurde und von den nationalen Regierungen unter der Aufsicht der Kommission umgesetzt wird.

«Die Märkte fürchten ein Szenario, in dem Europaskeptiker die Arbeit des Parlaments blockieren»

Das Europäische Parlament wirkt stattdessen am Entscheidungsfindungsprozess mit und legt den Rahmen für die strukturpolitischen Massnahmen fest, die in der Kompetenz der EU liegen, darunter die Bereiche Wettbewerb, Handel und bis zu einem gewissen Grad Industrie und Innovation. Allerdings haben strukturpolitische Reformen längerfristige Auswirkungen, die in der Regel nicht im Fokus der Märkte stehen.

Die Märkte werden den Ausgang der Europawahl verfolgen, aber nur, um mögliche Abwärtsrisiken und insbesondere Extremrisiken zu erkennen. Der Aufstieg einer souveränistischen Partei in den kommenden Wahlen dürfte die Märkte nicht erschüttern. Dass diese Bewegungen bedeutende Zuwächse verzeichnen, haben die Märkte bereits eingepreist.

Ebenso wie die Wahrscheinlichkeit eines stärker fragmentierten Parlaments, in dem die zwei traditionellen und grössten Gruppierungen – die Europäische Volkspartei und die sozialdemokratische Partei – keine stabile Mehrheit erreichen dürften, sondern Bündnisse mit den liberalen Demokraten und möglicherweise den Grünen eingehen müssen. Das Einzige, wovor sich die Märkte fürchten, ist ein Szenario, in dem Europaskeptiker die Arbeit des Parlaments blockieren und zum Beispiel die Ernennung einer neuen Kommission verhindern. Die meisten Beobachter halten dieses Szenario aber für unwahrscheinlich – ein Extremrisiko.

«Auch für den Brexit könnten die Wahlen eine sehr wichtige Rolle spielen»

Die Märkte werden auch die politischen Entwicklungen in den einzelnen Ländern beobachten, die durch die Wahlen in Gang gesetzt werden könnten. So könnten die Wahlen tatsächlich in einigen Ländern politische Veränderungen nach sich ziehen, vor allem in Ländern mit offensichtlich instabilen Regierungskoalitionen.

Auch für den Brexit könnten die Wahlen eine sehr wichtige Rolle spielen. Dass die Bürgerinnen und Bürger Grossbritanniens an der Europawahl teilnehmen, ist das Ergebnis des «Nicht-Brexit», und die Aussichten für die britischen Abgeordneten des Parlaments sind unsicher. Die Wahlen könnten Aufschluss darüber geben, was die britischen Wähler vom Brexit halten. Das Ergebnis dürfte die Märkte nicht aus der Bahn werfen. Es sei denn, es würde, beabsichtigt oder unbeabsichtigt, einen ungeordneten Brexit nach sich ziehen – ein weiteres Extremrisiko?


Fabrizio Pagani stiess Mitte 2018 als Global Head of Economics and Capital Markets Strategy zum Asset Manager Muzinich. Zuvor war er im öffentlichen Dienst tätig, zuletzt als Büroleiter des italienischen Finanzministers sowie als G20-Sherpa und Senior-Berater in Wirtschaftsfragen des italienischen Premierministers. Davor arbeitete er bei der OECD in Paris, wo er für die Arbeiten der OECD an den G20- und G8-Gipfeln nach der Finanzkrise verantwortlich zeichnete. Er besitzt einen Abschluss in Internationalen Angelegenheiten der Scuola S. Anna in Pisa und einen Master in Internationalem und Europäischem Recht des European University Institute.


Bisherige Texte von: Rudi BogniOliver BergerRolf BanzWerner VogtWalter WittmannAlfred Mettler, Robert HolzachCraig MurrayDavid ZollingerArthur BolligerBeat KappelerChris RoweStefan GerlachMarc Lussy, Nuno FernandesRichard EggerDieter RuloffMarco BargelSteve HankeUrs Schoettli, Maurice PedergnanaStefan Kreuzkamp, Oliver BussmannMichael BenzAlbert Steck, Martin DahindenThomas FedierAlfred MettlerBrigitte Strebel, Mirjam Staub-Bisang, Thorsten PolleitKim IskyanStephen DoverDenise Kenyon-RouvinezChristian DreyerKinan Khadam-Al-JameRobert HemmiAnton AffentrangerYves Mirabaud, Hans-Martin KrausGérard GuerdatDidier Saint-GeorgesMario BassiStephen ThariyanDan SteinbockRino BoriniBert FlossbachMichael HasenstabGuido SchillingWerner E. RutschDorte Bech VizardAdriano B. LucatelliKatharina BartMaya BhandariJean TiroleHans Jakob RothMarco MartinelliBeat WittmannThomas Sutter, Tom King, Werner PeyerThomas KupferPeter Kurer, Arturo Bris, Frédéric Papp, James Syme, Dennis Larsen, Bernd Kramer, Ralph Ebert, Marionna Wegenstein, Armin JansNicolas Roth, Hans Ulrich Jost, Patrick Hunger, Fabrizio QuirighettiClaire Shaw, Peter FanconiAlex Wolf, Dan Steinbock, Patrick Scheurle, Sandro Occhilupo, Will Ballard, Michael Bornhäusser, Nicholas Yeo, Claude-Alain Margelisch, Jean-François Hirschel, Jens Pongratz, Samuel Gerber, Philipp Weckherlin, Anne Richards, Antoni Trenchev, Benoit Barbereau, Pascal R. Bersier, Shaul Lifshitz, Ana Botín, Martin Gilbert, Jesper Koll, Ingo Rauser, Carlo Capaul, Claude Baumann, Markus Winkler, Konrad Hummler, Thomas Steinemann, Michael A. Welti, Christina Böck, Guillaume Compeyron, Miro Zivkovic, Alexander F. Wagner, Eric Heymann, Christoph Sax, Felix Brem, Jochen Möbert, Jacques-Aurélien Marcireau, Peter Hody, Ursula Finsterwald, Claudia Kraaz, Michel Longhini, Michael Welti, Stefan Blum, Zsolt Kohalmi, Karin M. Klossek, Nicolas Ramelet, Søren Bjønness, Lamara von Albertini, Andreas Britt und Gilles Prince.

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