Die dramatischen Ereignisse in Hongkong zeigen unmissverständlich, dass Kapitalismus nicht ohne ein Mindestmass an Freiheit auskommt. So mutiert die einstige britische Kronkolonie zur verwundbaren Achillesverse des mächtigen Chinas, stellt Claude Baumann in seinem Essay auf finews.first fest.


In dieser Rubrik finews.first nehmen Autorinnen und Autoren Stellung zu Wirtschafts- und Finanzthemen.


Als vor 30 Jahren die Berliner Mauer fiel, kurz darauf sich die Samtene Revolution in der damaligen Tschechoslowakei durchsetzte, und am Ende des selben Jahres die Schreckensherrschaft von Nicolae Ceaușescu in Rumänien ein makabres, aber rasches Ende fand, dachte auch ich, dass die Welt – zumindest aus freiheitlicher Perspektive – fortan eine bessere sein würde. Doch ich habe mich getäuscht – und war nicht der einzige.

Vielleicht waren damals viele von uns auf einem Auge blind. Denn im Juni 1989 hatte sich auch das Massaker am Tian’anmen-Platz in Peking ereignet, das alles andere als ein Schritt in Richtung Freiheit und Demokratie bedeutete. Es hätte uns aufrütteln sollen.

«Für das imposante Wirtschaftswunder Chinas erhalten wir nun die Rechnung serviert»

Stattdessen wähnten wir uns in einer neuen, vom technologischen Fortschritt beflügelten Wunderwelt, die der wieder entdeckten Globalisierung huldigte und uns eine bessere Zukunft verhiess – vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht. Mit dieser Optik liess sich auch die sagenhafte Entwicklung des Reichs der Mitte gutheissen, das sich auf phänomenale Art und Weise zu einer wirtschaftlichen Supermacht mausert und bis heute das grösste und zugleich erfolgreichste Experiment in der Geschichte darstellt, Millionen von Menschen aus der Armut befreit zu haben.

Dass dabei jegliches Demokratie- und Freiheitsverständnis auf der Strecke blieb, schien uns nicht sonderlich zu stören, zumal ein ebensolches Denken in Asien generell nicht so verbreitet ist, und wir uns der Überzeugung hingaben, die Wende zu Freiheit und Demokratie bloss eine Frage der Zeit sei.

Doch für das imposante Wirtschaftswunder Chinas erhalten wir nun die Rechnung serviert: In Hongkong tobt mittlerweile ein Bürgerkrieg, der die Welt ratlos macht. Kaum, weil man nicht wüsste, was die Lösung wäre, sondern weil die chinesische Seite bis heute absolut unnachgiebig in dieser Sache ist. Im Prinzip haben wir es heute mit einer Situation zu tun, die vergleichbar ist mit derjenigen in den 1980er-Jahren des Kalten Kriegs – und der Berliner Mauer als Symbol der Trennung von Ost und West.

«Insofern erinnert die Entwicklung in Hongkong durchaus an die Epoche der Berliner Mauer»

Auch damals dominierte in weiten Kreisen der Bevölkerung die Überzeugung, dass dies ein unhaltbarer Zustand sei. Doch hielten sich die Kritik daran und die Bemühungen, etwas dagegen zu tun, in Grenzen. Man nahm das menschenverachtete Regime in den verschiedenen Warschauer Paktstaaten schlicht als leidige Tatsache hin – zumal man sich kaum vorstellen konnte, dass sich kurz- bis mittelfristig etwas daran ändern würde – bis 1989, als die ungarische Regierung dazu überging, den Eisernen Vorhang zum Westen zu kappen. Der Rest ist Geschichte.

Insofern erinnert die Entwicklung in Hongkong durchaus an die Epoche der Berliner Mauer, allerdings deutet vorläufig nichts darauf hin, dass sich eine gute Lösung abzeichnen könnte. Im Gegenteil. Zu lange hat die westliche Welt nur dem wirtschaftlichen Fortschritt einer Diktatur gehuldigt – und die Augen in Bezug auf alle anderen Kriterien einer mündigen Gesellschaft verschlossen. Umgekehrt ist China in den vergangenen dreissig Jahren Opfer seiner Fehleinschätzung geworden, (Staat-)Kapitalismus gedeihe problemlos auch ohne Freiheit.

«Und das will niemand»

Doch die jüngsten Ereignisse in Hongkong beweisen genau das Gegenteil: Sie drohen die Errungenschaften der letzten drei Jahrzehnte zunichte zu machen. Denn ginge China dazu über, in Hongkong mit dem Eisernen Besen zu kehren, hätte dies fatale Rückwirkungen auf das Reich der Mitte. Und das will niemand.

Insofern ist die einstige kleine britische Kronkolonie zur Achillesverse des grossen Chinas mutiert, also zur verwundbaren Stelle eines hoch autoritären Systems. Solche instabilen Konstellationen haben in der Weltgeschichte erstaunlich oft zu raschen, aber stets unvorhersehbaren Wendungen geführt – wie der Fall der Berliner Mauer vor dreissig Jahren gezeigt hat.


Claude Baumann ist Mitgründer und CEO von finews.ch sowie von finews.asia in Singapur. Er schrieb früher für «Die Weltwoche» und «Finanz und Wirtschaft». Er war ebenfalls Mitgründer des Schweizer Literaturverlags Nagel & Kimche und lancierte das Geschäftsreisemagazin «Arrivals». Darüber hinaus hat er mehrere Bücher über die Finanzbranche publiziert.


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