Das Coronavirus führt uns vor Augen, dass die Welt doch nicht so perfekt ist, wie wir es gerne hätten, und dass unsere Kontrollmöglichkeiten doch nicht so umfassend sind, wie wir es uns einreden. Insofern liegt der Verbreitung von Covid-19 auch etwas Gutes inne, schreibt Santosh Brivio in seinem Essay für finews.ch.


In dieser Rubrik nehmen Autorinnen und Autoren Stellung zu Wirtschafts- und Finanzthemen.


«Das Einzige, das wir zu fürchten haben, ist die Furcht selbst», stellte der französische Philosoph Michel de Montaigne schon im 16. Jahrhundert fest. Angesichts der weltweiten Furcht vor dem Coronavirus (Covid-19) sind seine Worte aktueller denn je. Das Virus ist nach gegenwärtigem Wissenschaftsstand eigentlich keine allzu schreckliche Krankheit, selbst wenn bereits viele Menschen daran verstorben sind. Denn bei den meisten Infizierten, verläuft die Krankheit unproblematisch.

Trotzdem lähmt das Virus unsere Gesellschaft. Die Furcht vor einer unkontrollierbaren Ausbreitung bremst weite Teile der Wirtschaft, schickt weltweit die Aktienkurse auf Talfahrt und hemmt unser Zusammenleben. Wir fürchten uns tatsächlich – anstatt nur die Furcht zu fürchten.

«War der Nachbar nicht kürzlich in Italien unterwegs?»

Ein Grund für diese kollektive Paralyse liegt darin, dass wir uns mit der Ausbreitung des Coronavirus’ einem Gefühl stellen müssen, das schon fast vergessen schien: dem Gefühl der Ohnmacht, das sich nun beim besten Willen nicht verdrängen lässt. Oder anders formuliert: Mit der Ausbreitung von Covid-19 ist unser oftmals unbewusst und wahrscheinlich auch lebensnotwendiger Verdrängungsmechanismus schlagartig ausser Kraft gesetzt worden.

Das Virus ist da. Unsichtbar zwar, aber doch mitten unter uns. Die lange Inkubationszeit, in der Infizierte ansteckend sind, verunsichert uns und erschüttert das Fundament unseres Alltags. Hustet unser Sprössling nicht doch ein wenig verdächtig, seit er von der Kindertagesstätte heimgekommen ist? War der Nachbar nicht kürzlich in Italien unterwegs?

Es ist diese Unsicherheit, die uns ängstigt. Auch wenn in unserem engsten Umfeld alles gesund und munter erscheint — theoretisch könnten wir alle den viralen Erreger bereits in uns tragen. Ist es daher ratsam, etwa die betagten Eltern noch zu besuchen? Die Überlegung, wonach die angeordnete Schulschliessung zur Eindämmung der Virusausbreitung kontraproduktive Wirkung entfalten könnten, falls viele Kinder aufgrund der Berufstätigkeit der Eltern durch die Grosseltern betreut werden, zeigt exemplarisch, wie mannigfaltig die Zwickmühlen gutgemeinter Massnahmen sein können.

«Insofern liegt der Verbreitung von Covid-19 auch etwas Gutes inne»

Vor der Corona-Pandemie hatten wir es uns behaglich eingerichtet in unserer durch Wohlstand geprägten Welt, in der wir selektiv das wahrnahmen, was wir sehen wollten, und in der wir glaubten, wann immer nötig, die Kontrolle zu behalten. Das ist grundsätzlich auch in Ordnung so. Denn es lässt sich mit Recht behaupten, dass bei Geburt die Chance auf ein möglichst langes, gesundes und erfülltes Leben heute weltweit höher ist als noch vor 50 oder 100 Jahren.

Das Coronavirus führt uns nun aber vor Augen, dass die Welt doch nicht so perfekt ist, wie wir es gerne hätten, und dass unsere Kontrollmöglichkeiten doch nicht so umfassend sind, wie wir es uns einreden. Insofern liegt der Verbreitung von Covid-19 auch etwas Gutes inne: Sie trägt dazu bei, dass wir uns ganz unterschiedlicher Dinge wieder richtig bewusst werden.

«Es wird uns in Erinnerung gerufen, wie entscheidend eigenverantwortliches Handeln ist»

Als Wirtschaftsteilnehmer werden wir uns bewusst, wie fragil der als selbstverständlich geltende Welthandel ist. Es dämmert uns als Anleger, dass Zentralbanken auch mit dem tiefsten Griff in die geldpolitische Trickkiste die Aktienbörsen nicht unter allen Umständen bei Laune halten können. Es wird uns als liberale Gesellschaft in Erinnerung gerufen, wie entscheidend eigenverantwortliches Handeln ist — nicht nur, dass wir uns selbst daran orientieren, sondern dass wir uns auch bei anderen darauf verlassen können.

Und schliesslich trägt das Coronavirus dazu bei, uns bewusst zu werden, dass es Ereignisse, Phänomene und Entwicklungen gibt, die ausserhalb unserer Kontrolle liegen – eine nicht zu unterschätzende Erkenntnis. Denn auch wenn die Corona-Epidemie dereinst abgeebbt sein wird, bleiben andere grosse Herausforderungen bestehen. Geht man diese neben Zuversicht auch mit einer gewissen Demut an, wird dies sicherlich nicht schaden.


Santosh Brivio ist seit 2020 Senior Economist der Migros Bank und befasst sich mit den Konjunktur- und Finanzmarkt-Entwicklungen. Vor seinem Wechsel war er sieben Jahre für die Raiffeisen Gruppe tätig, zuletzt als Leiter Advisory Services und Verantwortlicher für das «Thematic Investment». Er stieg im Jahr 2009 als wissenschaftlicher Berater und persönlicher Referent eines geschäftsführenden Teilhabers der Ostschweizer Privatbank Wegelin in die Finanzbranche ein. Er hält einen Master der Universität Zürich und ist Chartered Alternative Investment Analyst (CAIA).


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