Wissen diente früher einem fremden Zweck, zumeist dem, einen bestimmten Glauben zu bestätigen. Erst ab dem 12. Jahrhundert begann Wissen, «eigensinnig» zu werden. Genau dies versuchen die Populisten nun umzudrehen, schreibt Lars Jaeger auf finews.first.


In dieser Rubrik finews.first nehmen Autorinnen und Autoren Stellung zu Wirtschafts- und Finanzthemen.


Es sind manchmal ganz banale Erlebnisse, Gespräche oder Vorkommnisse, die einem die Augen für die Dramatik gesellschaftlicher Entwicklungen öffnen. Ein beruflich geschätzter Kollege bei der Arbeit, der die Evolutionstheorie anzweifelt, Internetblogger, die lauthals verkünden, dass die Relativitätstheorie nicht stimmen kann, die Schwiegermutter, die sich gegen das Impfen ihrer Enkelkinder wehrt, oder der Freund, der sich unerwartet als Klimaskeptiker gibt.

Ein vorsichtiger Einwand, dass in all dieser Hinsicht die Wissenschaft eindeutige Aussagen machen und dass sich die Experten zu 99 Prozent einig seien, wird dann mit dem Verweis weggewischt «Ach, die Wissenschaftler, die wissen es doch auch nicht besser. Die sind sich ja gar nicht 100 Prozent einig» oder sogar «Die werden doch dafür bezahlt, dass sie diese Aussagen machen».

«Was sich skandalträchtig anhören soll, erweist sich bei näherer Betrachtung als eine Banalität»

Es erscheint widersprüchlich: Die Menschen vertrauen der Wissenschaft grundsätzlich, trauen ihr aber auch grosse Interessenkonflikte zu. Die «Wissenschaftler sind bezahlt», heisst es dann, nicht selten mit dem Anhängsel «und zwar vom Staat». Doch was sich skandalträchtig anhören soll, erweist sich bei näherer Betrachtung als eine Banalität: Sollen die Forscher vielleicht umsonst arbeiten?

Dass die meisten Forschungsbetriebe und damit Geldgeber staatliche Einrichtungen sind, hat sich für unsere Gesellschaft als sehr hilfreich erwiesen. Denn es ist gerade die zunehmende Abhängigkeit der Wissenschaft von kommerziellen Interessen, die uns beschäftigen sollte. Bei aller positiven Entwicklungsdynamik des Zusammenwirkens von Unternehmergeist und wissenschaftlichen Kreativität, die in den letzten 200 Jahren die enorme Wohlstandsvermehrung ausgelöst hat, so erscheint es den meisten Menschen doch eher unheimlich, die Renditegier der Technologie-Investoren, die Ideologie der Silicon-Valley-Transhumanisten oder ganz allgemein die kapitalistische (respektive militärische) Verwertungslogik über unserer aller Zukunft entscheiden zu lassen.

«Dazu gesellt sich eine zweite Entwicklung, die ihren populistischen Gegnern entgegenkommt»

Und was uns blüht, wenn ein allmächtiger Staat ausserhalb demokratischer Strukturen den wissenschaftlichen und technologischen Fortschritt steuert, zeigt das Beispiel China.

Dazu gesellt sich eine zweite Entwicklung innerhalb der Wissenschaften, die ihren populistischen Gegnern entgegenkommt. Beginnend mit der modernen Physik Anfang des 20. Jahrhunderts liess sie zunehmend vom Glauben an die Möglichkeit absoluter Gewissheit ab. So musste Newtons Vorstellung eines absoluten Raums respktive einer absoluten Zeit durch die relationale Raum-Zeit von Einsteins Relativitätstheorie ersetzt werden, die Nicht-Physiker kaum noch verstehen können.

Noch einschneidender war die Erkenntnis, dass ein Quantenobjekt gleichzeitig Welle und Teilchen ist und dass im Mikrokosmos ganz andere Gesetze als in unserem Makrokosmos gelten. Die Wissenschaftler mussten lernen, mit komplementären Wahrheiten zu leben, also: nicht A oder B ist wahr, sondern A und B können beide zugleich wahr sein.

«Je mehr Wissen wir erlangten, desto weniger durften wir darauf hoffen, dass es eine letzte Wahrheit gibt»

Der endgültige Todesstoss für den philosophischen Anspruch nach letzten und begründenden Wahrheiten war der neue Objektbegriff in der Quantenphysik. Nachdem die Zeit schon nicht mehr absolut ist, so soll es den Physikern gemäss im Mikrokosmos auch keine reale und unabhängig existierende Objekte mehr geben, keine objektive Realität und damit auch keine absolute Sicherheit.

Es ist paradox: Je mehr Wissen wir erlangten, desto weniger durften wir darauf hoffen, dass es eine letzte Wahrheit gibt. Der Preis für unseren Wissenszuwachs ist also hoch – wir haben nun nichts mehr, woran wir uns festhalten können. In einem über drei Jahrhunderte laufenden Prozess hat sich die Menschheit Schritt für Schritt all ihrer mühsam aufgebauten Gewissheiten beraubt.

  • Mit Kopernikus verloren wir unsere Zentralstellung im Universum.
  • Charles Darwin zeigte uns, dass wir auch nicht im Zentrum der Schöpfung stehen, sondern vielmehr Ergebnis eines Prozesses sind, den Tiere und Pflanzen gleichermassen durchlaufen.
  • Sigmund Freud zufolge sind wir noch nicht einmal Herr im eigenen Haus unseres Geistes, dem Raum unserer subjektiven Empfindungen und Gedanken.
  • Zuletzt sagten uns Relativitäts- und Quantentheorie, dass kein Standpunkt wichtiger und «richtiger» ist als alle anderen, und es auch keinerlei reale und unabhängig existierende («substanzielle») Objekte gibt.

Uns ist die absolute und ewige Wahrheit abhandengekommen. Das ist auch gut so, denn so funktioniert die Welt nun mal nicht. Umso wichtiger sind die wissenschaftlichen Wahrheiten, sie helfen uns, uns in unserer Welt zurechtzufinden.

«All diese Verluste von Wahrheiten haben Auswirkungen auf die menschliche Psyche»

Diese Wahrheiten sind keine Dogmen, denn sie stehen ständig auf dem Prüfstand, zum Beispiel durch Experimente und den rationalen Diskurs mit Kollegen; jederzeit können sie – je nach Faktenlage – verworfen und neu formuliert werden. Wie schon Galileo Galilei erkannte, liegt gerade darin die grosse Stärke der Wissenschaften.

All diese Verluste von Wahrheiten haben Auswirkungen auf die menschliche Psyche. Eindeutige Wahrheiten, klare spirituelle Grundlagen und unverrückbare Prinzipien sind offenbar wichtig für uns, damit wir uns in der Welt zurechtfinden. Das Vakuum, das der Verlust alter Gewissheiten hinterlässt, erzeugt in uns eine tiefe Verunsicherung.

So kommt es, dass angesichts der Komplexität gesellschaftlicher, politischer, wirtschaftlicher und wissenschaftlicher Fragen für so manchen ein Fluchtweg in die Vergangenheit führt, in der vermeintlich alles einfacher und besser war.

«Ihr Erfolg liegt in der verzerrenden Simplifizierung»

Slogans wie «Die Relativitätstheorie ist unlogisch, Newton hatte recht» sind attraktiver als sich durch die mathematische Komplexität der moderne Physik zu kämpfen, ganz so wie «Make America Great Again» oder «Es gibt keinen menschenverursachten Klimawandel» in vielen Ohren besser klingt als die Diskussion über komplexe internationale Handelsbeziehungen oder nichtlineare globale meteorologische Effekte durch die Erwärmung unserer Atmosphäre.

Diese beiden Punkte, die durchaus ernste Gefahr einer ausschliesslich kapitalistischen Verwertungslogik neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse und die Flucht in einfache Wahrheiten, spielt heutigen Populisten, Vereinfacherern und Wissenschaftsgegnern in die Hände. Ihr Erfolg liegt in der verzerrenden Simplifizierung intellektuell fordernder gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Zusammenhänge und dem verschwörerischen Verweis, dass die Wissenschaftler nur ihren eigenen Interessen folgen.

«Was ist der Unterschied zwischen wissenschaftlicher Wahrheit und populistischer Wahrheit?»

Und wer sagt eigentlich, dass Populisten, Relativitätskritikern, Evolutionsgegnern und Klimawandelleugnern nicht mit dem gleichen Anspruch wie die Wissenschaftler «wissen» dürfen, was sie wollen? Was ist der Unterschied zwischen wissenschaftlicher Wahrheit und populistischer Wahrheit?

Der Unterschied liegt in der Motivation der Beteiligten. Wissenschaftler wollen in einer Welt voller Unsicherheiten ihr Wissen vergrössern – uneingeschränkt, aufrichtig, rational und methodisch. Dazu stehen ihnen die mächtigen Tugenden der Wissenschaften zur Verfügung:

  • Abkehr von Dogmen und eine kompromisslos reflexive Einstellung zum eigenen Wissen,
  • Neugier und Vertrauen auf eigene Beobachtungen sowie das ehrliche Bekenntnis zu Fakten und ihre empirische Überprüfung
  • Vertrauen in unbestechliche Mathematik,
  • Anwendung von Wissen in Form von Technologie zum Wohle der Menschen.

Den Populisten dagegen geht es nicht um Wissensvermehrung, sondern um Glaubensbestätigung. Sie setzen klare unumstössliche Wahrheiten voraus; was nicht «ihrer Wahrheit» entspricht, wird mit Mitteln der Macht bekämpft, nicht mit denen des Argumentes oder der Faktenlage.

Dies ist buchstäblich ein Rückschritt ins frühe Mittelalter, als es eine selbstreferenzielle Einstellung zum eigenen Wissen nicht gab. Wissen diente damals einem fremden Zweck, zumeist dem, einen bestimmten Glauben zu bestätigen. Erst ab dem 12. Jahrhundert begann Wissen, «eigensinnig» zu werden. Und genau dies versuchen die Populisten nun umzudrehen. Noch einmal, diesem verhängnisvollen Trend müssen wir begegnen!


Lars Jaeger ist ein schweizerisch-deutscher Autor zu den Themen Geschichte, Philosophie und Bedeutung der Wissenschaften und technologischen Entwicklung, sowie zu Hedgefonds, quantitatives Investieren und Risikomanagement. Er ist gleichzeitig Head of Alternative Risk Premia beim Vermögensverwalter GAM. Von diesem Text gibt es eine längere Version unter diesem Link.


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