Traue keiner Statistik, die Du nicht selbst gefälscht hast. Dieses Bonmot dürfte im Zuge der Corona-Krise manchem durch den Kopf gehen. Denn angesichts der Vielzahl an Daten und Zahlen, die zu Covid-19 jederzeit und überall zu finden sind, wird es schwierig, den Überblick zu behalten, schreibt Santosh Brivio exklusiv auf finews.first.


In dieser Rubrik nehmen Autorinnen und Autoren Stellung zu Wirtschafts- und Finanzthemen.


Tatsächlich tun sich immer mehr Leute schwer damit, was sie nun eigentlich glauben sollen. Längst ist der weit verbreitete Konsens hinsichtlich der Einschätzung des Corona-Virus’ einem sich verschärfenden Dissens gewichen. Je länger die Pandemie anhält, desto mehr droht die Frage nach dem angemessenen Umgang mit ihr die Gesellschaft zu entzweien.

Was denkst Du über Corona? Die simple Frage kommt vielfach einem Schritt in das sprichwörtliche Minenfeld gleich und ist schon fast eine Garantie für hitzige Diskussionen, in denen miteinander unvereinbare Anschauungen und Standpunkte aufeinanderprallen.

«Die Geister scheiden sich am Verlauf der Pandemie»

Und dabei gibt es kaum eine Sichtweise, die sich nicht mit entsprechenden Statistiken untermauern liesse.

Die Geister scheiden sich bereits am aktuellen Verlauf der Pandemie. Die gefürchtete zweite Welle sei bereits angerollt, warnen die einen und verweisen besorgt auf die steigende Anzahl Infektionen der letzten Wochen. «Kein Grund zur Panik», beschwichtigen die anderen und weisen auf deutlich ausgeweitete Testregimes hin: Wo mehr getestet werde, finde man natürlich auch mehr positive Fälle.

«Die Anzahl Tote sprechen eine eindeutige Sprache»

Ist man sich zu diesem Punkt einig, sich in diesem Punkt nicht einig zu sein, lauert bereits der nächste Zankapfel. Denn nicht mal die auf den ersten Blick einfach scheinende Frage, welches Land aktuell am besten respektive am schlechtesten da steht, ist offenbar eindeutig zu beantworten.

Von den Industriestaaten seien die USA, gefolgt von Luxemburg, Israel, Spanien und Schweden am schlimmsten betroffen, lautet die Meinung jener, die sich auf die momentane Infektionsrate beziehen. «Nicht unbedingt», geben jene zu bedenken, die sich ihrerseits auf die Genesungsrate abstützen.

Gerade für Luxemburg, die USA und für Israel zeige dieser Wert an, dass diese Länder einfach schon weiter im letztlich unaufhaltsamen Pandemieverlauf seien. «Die Anzahl Tote sprechen aber eine eindeutige Sprache», wird die erste Gruppe einwenden. «Unsinn», werden die anderen kontern. Die Anzahl Todesopfer sei erstens von der Erhebungsmethode abhängig ud zweitens lediglich eine Momentaufnahme und eine Einordnung der Sterberate, könne wenn überhaupt erst am Ende des Jahres erfolgen.

«Das mache doch deutlich, dass das Virus nicht viel gefährlicher als eine starke Grippe sei, sagen die einen»

Womit man bereits mitten in der Diskussion über die unmittelbare Gefährlichkeit von Corona steckt. Während vielen noch immer der Schrecken ob der Bilder aus Bergamo oder New York in den Knochen steckt, weisen ebenso viele darauf hin, dass die vermutete Mortalität von Covid-19 mittlerweile deutlich gefallen sei und weltweit bei rund 3 Prozent liege. Die hohe Dunkelziffer bei den Infizierten mit unproblematischem Verlauf deute zudem darauf hin, dass das Virus womöglich nicht viel gefährlicher als eine starke Grippe sei, und die Gesellschaft endlich lernen müsse, damit zu leben.

Genau für ein solches Leben mit dem Virus seien ein paar wenige Einschränkungen sowie «Social Distancing», Handhygiene und Maskenpflicht wohl ein absolut zumutbares und vor allem angemessenes Massnahmenpaket, werden jene sagen, die einen grossen Respekt vor dem Virus haben.

«Die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und sozialen Folgen dieser Massnahmen sind angesichts der geringen Gefährlichkeit von Corona viel zu hoch», sind diejenigen überzeugt, die Covid-19 eher achselzuckend zur Kenntnis nehmen.
Und überhaupt: Gerade die Maskenpflicht sei ein kompletter Humbug, der ausser Gewissensberuhigung wenig bis gar nichts bringe. «Selbstverständlich ist der Nutzen erwiesen», entrüsten sich die Maskenbefürworter und verweisen auf Studien, die eine Verringerung des Infektionsrisikos um bis zu 80 Prozent konstatieren.

Dies sage überhaupt nichts über die absolute Wahrscheinlichkeit aus, überhaupt am Virus zu erkranken, sagen die Maskengegner und beziehen sich ihrerseits auf Untersuchungen, wonach das Infektionsrisiko bei Kontakt mit einem Corona-Erkrankten mit Maske immer noch mehr als 3 Prozent betrage, während es ohne Maske bei rund 17 Prozent liege.

«Geht es um eine Virus-Eindämmung als solches und ist diese überhaupt realistisch?»

Fast liesse sich die Liste der Uneinigkeiten noch beliebig fortsetzen. Die entbrannten Debatten um Virus-Gefährlichkeit, Pandemie-Zahlen oder Schutzmassnahmen ist wohl nicht zuletzt auch der Tatsache geschuldet, dass die Strategie und das Ziel der Corona-Bekämpfung nicht mehr so eindeutig festgelegt sind und eine weit verbreitete Ratlosigkeit vorherrscht.

Geht es um eine Virus-Eindämmung als solches und ist diese überhaupt realistisch? Warum soll die Reproduktionszahl R unter 1 gehalten werden, wenn die allermeisten Infektionen mit milden oder gar keinen Symptomen verlaufen?

Wenn die Verhinderung einer Überlastung des Gesundheitswesens das Ziel ist — wären Hospitalisierungsraten nicht hilfreicher als absolute Infektionszahlen? Wenn es um den Schutz vulnerabler Personen geht, sind dann die sinkenden und vielerorts schon sehr tiefen Corona-Sterberaten nicht ein ermutigendes Signal?

«Oft legen viele Leute ein urmenschliches, als «Ankereffekt» bekanntes Verhalten zu Tage»

Da die Antworten auf diese und ähnliche Fragen in vielen Ländern bestenfalls vage beantwortet sind, fällt es auch entsprechend schwer, die Fülle an Corona-Daten adäquat einzuordnen.

Entsprechend oft legen viele Leute ein urmenschliches, als «Ankereffekt» bekanntes Verhalten zu Tage: Sie filtern die Informationen, Zahlen und Schlagzeilen dergestalt, dass sie sich in ihren eigenen Überzeugungen bestätigt fühlen. Insofern müsste die eingangs erwähnte Redewendung treffender lauten: Trau keiner Statistik, die Du nicht selbst ausgesucht hast.


Santosh Brivio ist seit 2020 Senior Economist der Migros Bank und befasst sich mit den Konjunktur- und Finanzmarkt-Entwicklungen. Vor seinem Wechsel war er sieben Jahre für die Raiffeisen Gruppe tätig, zuletzt als Leiter Advisory Services und Verantwortlicher für das «Thematic Investment». Er stieg im Jahr 2009 als wissenschaftlicher Berater und persönlicher Referent eines geschäftsführenden Teilhabers der Ostschweizer Privatbank Wegelin in die Finanzbranche ein. Er hält einen Master der Universität Zürich und ist Chartered Alternative Investment Analyst (CAIA).


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