Viele der heutigen Investoren kennen nur steigende Märkte und ein System, das die Privatisierung von Gewinnen und Vermögen sowie die Sozialisierung von Kapitalverlusten in längeren schwierigen Marktphasen ermöglicht. Da viele Anlegerinnen und Anleger zurzeit alle Warnsignale ignorieren, sollten wir das Ganze vielleicht einmal aus einer anderen Perspektive betrachten, findet Robert Almeida in seinem Beitrag auf finews.first.


In dieser Rubrik nehmen Autorinnen und Autoren Stellung zu Wirtschafts- und Finanzthemen.


Der britische Statistiker George Box hielt alle Modelle für naturgemäss fehlerhaft, weil sie auf der Vergangenheit beruhen. Er meinte aber auch, dass es von Vorteil sei, diese Fehler zu kennen. Dann könne man nämlich die Gewichtung der einzelnen Parameter abhängig vom prognostizierten oder wahrgenommenen Umfeld variieren und Vergleiche mit der Vergangenheit anstellen.

Der erwartete Renditevorteil von Aktien gegenüber Staatsanleihen liegt im langfristigen Durchschnitt bei 3 Prozent bis 5 Prozent. Da die Zinsen jetzt wieder normaler sind, die Marktzinsen den Leitzinsen folgen, die ab 2022 angehoben wurden, und Aktien in diesem Jahr stark gestiegen sind, sind die Risikoprämien jetzt so niedrig wie zuletzt während der Internetblase.

«Der enorme Kapitalzyklus, der durch das Internet entstanden ist, wird häufig vergessen»

Ich habe eben die Internetblase erwähnt. Da sie bereits vor zwanzig Jahren geplatzt ist, waren viele der derzeitigen Investoren damals noch keine, aber den meisten von ihnen sind sie und das damalige Umfeld ein Begriff.

Woran man sich meist erinnert, sind die aussergewöhnlich hohen Bewertungen von Unternehmen mit einem «.com» oder «.net» im Namen. Der enorme Kapitalzyklus, der durch das Internet entstanden ist, wird aber häufig vergessen. Für jeden Schreibtisch wurde ein Computer angeschafft und mit anderen über das Internet verbunden. Dank dieser Unternehmensinvestitionen sind Wirtschaft und Umsätze enorm gewachsen. Aber dessen ungeachtet waren die Bewertungen exorbitant, so dass Aktien trotz des gigantischen Wachstums sehr teuer waren, sogar gemessen am Kurs-Umsatz-Verhältnis.

Der Zyklus nach 2008 war dagegen völlig anders. Er hatte nichts mit Unternehmensinvestitionen zu tun. Deflationsangst, nachlassende Umlaufgeschwindigkeit des Geldes und schwache Endverbrauchernachfrage sorgten dafür, dass die Unternehmen ihr Kapital nicht in Anlagegüter (etwa Ausstattung) investierten, sondern stattdessen eigene Aktien zurückkauften, höhere Dividenden ausschütteten oder andere Unternehmen übernahmen.

«Diese Phase ging 2022 zu Ende»

Die Folge war der schwächste Konjunkturzyklus seit mehr als 100 Jahren, und das Umsatzwachstum war so dürftig wie noch nie. Dennoch entwickelten sich Aktien fantastisch, weil die Unternehmen durch Kosteneinsparungen bei zugleich fallenden Zinsen, die Auslagerung von Arbeit in Niedriglohnländer und immer weniger Anlageinvestitionen ihre Rentabilität steigern konnten. Aber diese Phase ging 2022 zu Ende, und mit den günstigen Auswirkungen der niedrigen Zinsen auf die Gewinne, den Auslagerungen und den zu geringen Investitionen ist es jetzt nicht nur vorbei. Hier sind sogar gegenläufige Trends entstanden.

Da viele Aktieninvestoren kurzfristig denken und weder nach links noch nach rechts schauen, könnten die auf Sicht der nächsten zwölf Monate erwarteten KGVs und Gewinnrenditen die Risiken verharmlosen. Ganz im Sinne von George Box zeigt die nachstehende Grafik die Entwicklung des Kurs-Umsatz-Verhältnisses (KUV) des S&P 500 seit Mitte der 1990er-Jahre.

Chart klein

(Zum Vergrössern, Grafik anklicken)

Wie ich bereits geschrieben habe, waren Aktien selbst gemessen an dieser wachstumsabhängigen Kennzahl in den 1990er-Jahren trotz des starken Wachstums teuer. Angesichts des schwachen Wirtschafts- und Umsatzwachstums während des Zyklus nach 2008 überrascht es wenig, dass das KUV danach wieder gestiegen ist – auf Werte wie zuletzt auf dem Höhepunkt der Internetblase. Im Jahr 2021 ist es wegen des Wachstumsschubs nach den Lockdowns – ausgelöst von den staatlichen und geldpolitischen Maßnahmen – ein wenig zurückgegangen. Seitdem hat die Dynamik aber nachgelassen, und weil die Aktienkurse in diesem Jahr gestiegen sind, hat auch das KUV wieder zugelegt.

«Das grosse Ganze ist komplexer»

Gemessen an traditionellen Kennzahlen sind Aktien hoch bewertet. Das grosse Ganze ist allerdings komplexer. Die Zeit der niedrigen Kapitalkosten ist vorbei und die hohen aufgelaufenen Schulden werden teuer refinanziert werden müssen. Das belastet den freien Cashflow. Auch die niedrigen Lohnkosten gehören der Vergangenheit an. Die Lieferketten sind nicht mehr überlastet, und es wird wieder mehr in nachhaltigere Geschäftsprozesse investiert.

George Box hat gesagt, dass Modelle grundsätzlich falsch, aber einige von ihnen nützlich sind. Ich denke, das gilt auch für Bewertungsmodelle. Jeder Konjunkturzyklus und jedes Marktumfeld ist anders. Diese Besonderheiten bestimmen, wie nützlich Bewertungs-Kennzahlen sind und sind der Grund dafür, dass man verschiedene Parameter betrachten und ihre Fehler kennen sollte.

«Kapital und Arbeit sind so knapp wie zuletzt 2008»

Wir stehen am Beginn einer neuen Zeit: Kapital und Arbeit sind so knapp wie zuletzt 2008. Nicht alle Unternehmen werden genug verdienen können, um ihre neuen oder wieder normalen Faktorkosten bezahlen zu können. Zahlungsausfälle, Kapitalrestrukturierungen und Konkurse werden zunehmen. Um gut durch diese neue Zeit zu kommen, braucht man andere Werkzeuge als zuletzt.

George Box würde vermutlich sagen, dass man immer daran denken muss, dass alle Bewertungs- und Fundamentalanalysemodelle fehlerhaft sind, aber einige von ihnen nützlich. Um diesen Zyklus zu meistern, werden Investoren viel mehr Hausaufgaben machen müssen. Dabei könnten sie es hilfreich finden, eine Vielzahl von Werkzeugen für die Analyse der Bewertung und der Fundamentaldaten zu nutzen.


Robert M. Almeida, Jr. ist Global Investment Strategist und Portfoliomanager bei MFS Investment Management.


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